Hat Hayek wirklich die Swatch erfunden? (I)

von Bettina Hahnloser 19. Oktober 2017

«Unruhige Zeiten.» Mit einer Ausstellung thematisiert das Kultur-Historische Museum Grenchen die beiden Krisen der Uhrenindustrie im 20. Jahrhundert. Noch heute gerät das Blut jener, die damals dabei waren, bei manchen Fragen in Wallung.

Die Ausstellungsmacher im Kultur-Historischen Museum Grenchen haben sich Grosses vorgenommen: Mit «Unruhige Zeiten» thematisieren sie die beiden schweren Krisen der schweizerischen Uhrenbranche im 20. Jahrhundert – die Konjunkturkrise der dreissiger und die «Quarzkrise» der siebziger Jahre – und zeigen die Auswirkungen auf die Stadt Grenchen.

Diese Stadt am Jurasüdfuss lebte einst (und noch heute) von der Uhrenindustrie: Hier wurde Mitte des 19. Jahrhunderts der Grundstein gelegt für den Aufschwung der Branche in höhere Sphären. Hier ist auch heute noch der Sitz der Uhrenwerkherstellerin ETA, die 1932 unter das Dach der Allgemeinen Schweizerischen Uhrenindustrie AG (Asuag) gezwängt wurde, und die heute noch das Kernstück der Swatch Group ist. Ohne die ETA gäbe es die Swatchuhr nicht, und ohne die Swatchuhr mit ihrer vollautomatisierten Produktion und hohen Gewinnmarge wäre die Uhrenindustrie nach der Sanierung 1983 kaum so rasch wieder genesen.

Ausstellung von der Zeit der Patrons…

«Die Ausstellung soll diese Zeiten anschaulich darstellen und die Auswirkungen beleuchten», sagt Angela Kummer, Direktorin des kleinen, umtriebigen Kultur-Historischen Museums in Grenchen. Es galt, gestützt auf neuere historische Publikationen ein hochkomplexes Thema auf eine Weise zu reduzieren, dass auch Schulklassen und Familien die Geschichte nachvollziehen können. Eine Zeitachse veranschaulicht das stete Auf und Ab in der Uhrenbranche, an der Zeitungsausschnitte und Fotos jener Zeiten hängen. Die einzelnen Ereignisse können an interaktiven Stationen vertieft werden.

Die Ausstellung will nicht nur Negativereignisse beleuchten, sondern auch zeigen, wie damals Politik und Uhrenpatrons reagiert hatten: «In Krisen hat man nicht einfach den Kopf in den Sand gesteckt, sondern man hat agiert – mit Arbeitslosenprogrammen, mit kulturellen Veranstaltungen und Weiterbildungen oder mit der Ansiedlung neuer Branchen», sagt Kummer.

Ein solches Projekt war die Gründung des Flughafens Grenchen im Jahre 1933: In der Weltwirtschaftskrise nach dem Börsensturz an der Wall Street nahm sich Adolf Schild, Patron des grössten Grenchner Uhrenunternehmens Assa, der Aufgabe an, Arbeitsplätze in einer neuen Branche zu schaffen: Schild, der selber Flugangst hatte, stellte sein Land für den Bau eines Flughafens und einer Zulieferfabrik zur Verfügung.

«Das waren noch Zeiten, als die Patrons Verantwortung übernahmen!», hört man noch heute von der älteren Grenchner Bevölkerung. Selbst frühere Gewerkschafter trauern dieser Zeit nach. Kummer bestätigt: «Die Patrons initiierten Projekte, um die Leute zu beschäftigen, sodass sie nicht die Stadt verliessen.» Mit privatem oder Firmengeld unterstützten sie auch Vereine und Veranstaltungen. Dank ihnen schwang sich der FC Grenchen in den 1960er Jahren an die Tabellenspitze der Nationalliga A auf – um von dort wieder zu verschwinden, als die Firmengründer oder deren Nachkommen anfangs der 1980er Jahre das Feld räumen mussten.

Vorbei waren die Zeiten, als man bei den Schilds oder den Baumgartners anklopfen konnte, um Geld für Projekte zu erhalten. Als Gegenleistung wurde damals, versteht sich, unbedingte Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber eingefordert. In den Nachkriegszeiten der Hochkonjunktur war das kein Problem: Die Uhrenbranche war die erste, die einen Gesamtarbeitsvertrag aushandelte, und sie zahlte während Jahrzehnten die höchsten Löhne in der Schweiz.

… bis zur grossen Krise

Mit den Wohltätigkeiten ist es längst vorbei: Obwohl Biel gleich um die Ecke liegt, scheint die Leitung der Swatch Group weit entfernt von Grenchen zu sein, wo die Ereignisse der letzten grossen Krise noch sehr präsent sind: Fast alle Bewohnerinnen und Bewohner haben die Auswirkungen am eigenen Leib erfahren oder haben Verwandte, die davon erzählen. So lädt denn auch an der Ausstellung eine Station mit Kamera und Aufnahmegerät dazu ein, Erinnerungen festzuhalten: «Es gibt noch viele Zeitzeugen, und wir wollen einen Beitrag leisten zur Oral History», sagt Angela Kummer.

Das ist auch nötig. Merkwürdig lange wurden die dramatischen Ereignisse um 1980 in der Uhrenindustrie von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelt. So durften alle, die es darauf angelegt hatten, ungestraft Behauptungen in die Welt setzen und Legenden stricken – wie jene, dass die Uhrenpatrons den Wandel verschlafen hätten, oder dass der damalige strategische Berater der Société Suisse pour l’Industrie Horlogère (SSIH), Nicolas Hayek, die Swatchuhr erfunden und die Uhrenindustrie gerettet habe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschte die schweizerische Uhrenindustrie neunzig Prozent des Weltuhrenmarktes. Danach nahm der Anteil sukzessive ab, aber noch Anfang der 1970er Jahre war die Schweiz weltweite Marktführerin im Segment der Qualitätsuhren. Dann verschlechterte sich die Lage bis Ende der 1970er Jahre rapid, sodass die NZZ lapidar feststellte: «Das blosse Überleben ist unter den gegebenen Umständen schon eine beachtliche Leistung.» 1970 beschäftigte die Branche 90’000 Arbeitskräfte – nur eine Dekade später waren es noch ein Drittel davon. In Grenchen rächte sich die industrielle Monokultur: die Wohnbevölkerung sank um zwanzig Prozent auf 16’500 im Jahre 1980 ab. Das Städtchen, dem im 20. Jahrhundert ausschliesslich sozialdemokratische Stadtpräsidenten vorstanden, darbte.

Dieser Niedergang ging als «Quarzkrise» in die Geschichte ein. Doch neuere Forschung hat gezeigt: Die schweizerische Uhrenindustrie kam nicht wegen der neuen Technologie ins Hintertreffen, sondern wurde erstmals auf ihrem angestammten Gebiet, der Ankeruhr, geschlagen. Und zwar von den Japanern: Sinnbild ist das legendäre Fliessband mit einer Länge von 1,6 Kilometern, das der japanische Uhrenkonzern Seiko 1975 installierte – fortan war die Montage vollautomatisiert. Die Produktionsdauer einer Uhr wurde damit im Mittel von 30 auf eineinhalb Tage reduziert.

Die folgende Krise war dramatisch: Sämtliche Ertragspositionen des Uhrenkonzerns Asuag mit Sitz in Biel seien gegenüber dem Vorjahr rückläufig, die flüssigen Mittel tendierten gegen Null: Fast täglich wurde Bundesrat Fritz Honegger anfangs der 1980er Jahren mit Hiobsbotschaften aus der Uhrenbranche alimentiert. Im Februar 1982 orientierte Pierre Renggli, Präsident und CEO der Asuag, den Verwaltungsrat: Die Lage sei katastrophal, es bleibe nur noch der «geordnete Rückzug».

Die neue Sicht von Bruno Bohlhalter

In der Bundesverwaltung herrschte hektische Betriebsamkeit, und einmal mehr beschäftigte sich Politik und Verwaltung mit der Frage, warum eigentlich die Eidgenossenschaft noch Aktionärin der Asuag sei und in deren Verwaltungsrat Einsitz habe. Diese im Jahre 1932 vollzogene Beteiligung an einem Konzern, dessen Betriebe Uhrenwerke und Bestandteile herstellten, ist nur eine von vielen Besonderheiten, welche die Uhrenbranche im 20. Jahrhundert prägte. Ihre Geschichte gehört wohl zu den komplexesten und sonderbarsten Industriebranchengeschichten der Schweiz – und sie ist zweifellos die faszinierendste, die in ihrer Dramatik heute noch die Gemüter bewegt.

Aufgearbeitet hat sie zuletzt der heute 74-jährige Bruno Bohlhalter mit einer wirtschaftshistorischen Dissertation an der Universität Fribourg. Sie ist 2016 unter dem Titel «Unruh» im NZZ-Verlag erschienen – ein Lehrstück in Sachen Verbandspolitik, Kartellwirtschaft und staatlicher Intervention. In akribischer Fleissarbeit hat er während Jahren Statistiken, Jahresberichte und Bilanzen analysiert, um zu verstehen, was damals in den Zeiten der grossen Krisen wirklich geschehen ist. Heute muss vieles, was seit den 1980er Jahre über die Uhrenkrise und deren Ursachen geschrieben und kolportiert worden ist, revidiert werden – allem voran der Begriff «Quarzkrise».

Womit Bohlhalter aber wohl kaum gerechnet hat: Seine Darstellung der Bewältigung der Krise durch die damaligen Gläubigerbanken hat eine überaus hitzige Diskussion ausgelöst. Gestritten wird von damaligen Direktoren und Beschäftigten der Uhrenindustrie; eingeschaltet haben sich auch jüngere WissenschafterInnen der ETH Zürich. Die Meinungsverschiedenheit dreht sich um die Frage: War es tatsächlich notwendig (und rechtens), dass die Finanzinstitute – allen voran die damalige Schweizerische Bankgesellschaft und der Schweizerische Bankverein – 1983 den Asuag-Konzern einem rigorosen Kapitalschnitt unterzogen, um ihn mit der darbenden SSIH, für die Hayek arbeitete, zu fusionieren?

Ja, sagt Bohlhalter, der damals Kreditchef der Schweizerischen Volksbank war. Nein, sagen Protagonisten der Asuag, deren Blut bei diesem Thema noch immer in Wallung gerät. Jener, der damals in der ETA beziehungsweise Asuag die Hauptrolle spielte, meldete sich für die Vernissage der Ausstellung in Grenchen am 31. August ab: Er, Ernst Thomke, sehe die Dinge anders als Bruno Bohlhalter und verzichte deshalb auf die Teilnahme…

Lesen Sie hier: Hat Hayek wirklich die Swatch erfunden? (II)