Etwas mehr Abstand, bitte

von Yannic Schmezer 29. März 2020

Am Anfang fühlte es sich so an, wie damals in der Schule, als der Lehrer nach dem zweiten Klingeln noch immer nicht im Klassenzimmer stand und die Schulleiterin ein paar Minuten später die stille Hoffnung, er habe sich vielleicht was eingefangen und Mathe falle deshalb aus, mit sanfter Hand in die Realität stiess. Plötzlich lösen sich Pflichten in Nichts auf, Sekunden, Minuten und Stunden fallen wie Münzen aus einem Spielautomaten in die hohle Hand. Corona ist doch kein Übel, dachte ich. Jedenfalls für mich nicht, dessen Privilegien derzeit ihre volle Schutzwirkung entfalten. Ich vertreibe mir die Zeit damit, im neu bezogenen Haus den Garten zu kehren und mich in die Sicherheit einer Home-Office-Stelle zu wiegen im Wissen, dass meine zweite Stelle trotz temporärer Schlissung des Betriebs weiterhin zahlt.

Aber dann habe ich gestern schlecht geschlafen. Erst war ich müden, dann dünnhäutig, dann wütend. Das Gute an der Wut ist, dass sie einen schützt, indem sie Ursachen externalisiert. Plötzlich konnte ich mich ohne Anstrengung ab sämtlicher Corona-Berichterstattung aufregen, ab den knallroten BAG-Plakaten, den Influencer*innen, die ihre Hände-wasch-Videos mit dem Hashtag «#stayhome» unterlegen, ab den gefühlt stündlich stattfindenden Pressekonferenzen, ab den Menschen, die mir sagen, die Massnahmen würden «sicher verlängert», ab den Abstandsstreifen vor dem Coop und selbst ab denen, die sich über all das lustig machen, weil: Rire c’est bon pour la santé, oder?

Mittlerweile sind sowohl Müdigkeit als auch Wut gewichen. Nicht zuletzt, weil mich mein Anstand eingeholt und dazu angehalten hat, etwas mehr Durchhaltevermögen an den Tag zu legen. Immerhin ist Corona für einige Menschen eine echte Bedrohung. Nicht nur für die Risikogruppe, sondern auch für jene, die kein Corona haben, aber eines der wenigen Betten auf den Intensivstationen brauchen. Und wenn DJ Antoine das Leben in der Isolation mit einem Wohnzimmerkonzert auf Blick.ch für einige ein wenig erträglicher macht, muss ich das wohl aushalten.

Etwas ist mir aber geblieben von meinem Ausbruch: Ich habe Abstand von den harschen Massnahmen der Behörden und den Forderungen nach noch härterem Durchgreifen gewonnen. Ich schäme mich nicht mehr zu sagen, dass mir die ganze Sache mächtig auf den Zeiger geht – ohne sie aber falsch zu finden. Ich möchte diese Einstellung sogar weiterempfehlen, denn sie scheint mir die einzig richtige zu sein. Man muss die Massnahmen des Bundes nicht gut finden. Man sollte sie auch nicht gut finden, sondern allenfalls notwendig. Gerade in Anbetracht der massiven Grundrechtseinschränkungen und der extrem ausserordentlichen Situation, dass von jetzt auf gleich sieben indirekt gewählte Menschen die Geschicke eines ganzen Landes lenken, wäre kollektive Skepsis eine gute Reaktion. Selbst, wenn sich alle behördlichen Massnahmen als verhältnismässig herausstellen, muss unbedingt und wiederholt darauf hingewiesen werden, dass dieser Weg der Repression bei der allerersten Abzweigungsmöglichkeit wieder neu verhandelt werden muss.