Herzensangelegenheit: Canto Classico

von Jessica Allemann 21. Oktober 2012

Beinahe ungebremst erzählt der Dirigent Willi Derungs von schwierigen Zeiten, vom Gefühlezulassen und der Gratwanderung zwischen spannenden und finanziell sichereren Projekten.

Mit herzhaftem Händedruck und offenem Lächeln empfängt Willi Derungs zum Gespräch. Noch ein wenig gehetzt von vorgängigen Terminen setzt er sich an einen Tisch in der Cafeteria des Kirchgemeindehauses Petrus, wo der Konzertchor Canto Classico in zwei Stunden proben wird. Und redet los. Die Leidenschaft für die Chorarbeit im Allgemeinen und den Chor Canto Classico im Speziellen dringt aus jedem seiner Sätze. Bald wirkt er enthusiastisch und konzentriert zugleich. Lange überlegen muss er auf ein Nachhaken nicht, er scheint sich jede Frage schon selber gestellt zu haben.

Willi Derungs:

«Der Chor Canto Classico ist eine Herzensangelegenheit. Ich habe den Chor 2006 aus dem Nichts aufgebaut und durch holprige Zeiten geführt. Ich weiss nicht, ob ich es aus heutiger Sicht nochmals wagen würde, einen neuen Chor zu gründen. Am Anfang stellt man sich alles einfacher vor, vielleicht bin ich zu blauäugig in die Vision gestartet. Man braucht einen langen Atem. Ich habe da viel Arbeit und Zeit reingesteckt und mich an anderen Orten, auch beruflich, zurückgenommen. In den härtesten Zeiten habe ich Tag und Nacht für den Chor gearbeitet, meine Freizeit geopfert und auch Mal auf meinen Lohn als Chorleiter verzichtet. Eine Zeit lang war ich nie sicher, ob nach Abschluss eines Projekts genug Geld in die Vereinskasse geflossen sein würde, um das nächste Projekt lancieren zu können. Aber wenn ein Projekt gelungen ist, zahlt sich die Arbeit mehrfach aus. Der Ehrgeiz war sowieso immer stärker als der Leidensdruck. Die ganzen Entbehrungen sollten nicht für nichts gewesen sein. Und wenn mich Mal der Mut ganz verlassen hatte, waren es immer die Chorsängerinnen und -sänger, die mich motivierten, weiterzumachen.»

«Man muss stärker um die Leute kämpfen»

«Ein Problem vieler Chöre ist es, dass das Durchschnittsalter immer höher wird. Es ist extrem schwierig, die Jungen bei der Stange zu halten. Die traditionellen Chöre entsprechen nicht mehr den Vorstellungen der jungen Generation. Die Vereinsarbeit und undankbare Auftritte im Altersheim bringen keinen Nachwuchs. Das liegt halt auch daran, dass wir heute ein ganz anderes Umfeld als noch vor hundert Jahren haben. Es gibt viel mehr Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten. An den Schulen wird das Chorsingen nicht mehr so gepflegt wie früher, und Hausmusik hat auch keine grosse Bedeutung mehr.

«Die traditionel- len Chöre ent- sprechen nicht mehr den Vorstel- lungen der jungen Generation.»

Willi Derungs, Dirigent Canto Classico

Heutzutage muss man viel stärker um die Leute kämpfen, um die jungen besonders. Nichtsdestotrotz habe ich daran geglaubt, dass die Leute da sind, die gute Musik machen wollen und bereit sind, sich dafür zu engagieren. Canto Classico sollte ein Chor sein, der auch diese jungen Menschen anspricht. Wahrscheinlich sind wir der Chor mit dem jüngsten Durschnittsalter in Bern, Jugendchöre ausgenommen. Wir haben keine Alterslimite nach oben, bei uns singen aber etliche Studierende zwischen zwanzig und dreissig Jahren mit. Die meisten Chormitglieder sind zwischen dreissig und fünfzig Jahre alt. Wenn man es nicht schafft, die Jungen mitzunehmen, stirbt ein Chor früher oder später. Ich fände es schade, wenn die Chortradition auf einmal abbrechen würde. Dabei ist mir die Tradition an sich nicht wichtig, aber die Kultur des gemeinsamen Musizierens ist essentiell, nicht nur für die Chormusik. Auch die grossen Kulturinstitutionen leben von einem Publikum, das sich für Musik interessiert. Das sind ja gerade auch die kulturinteressierten Laienmusikerinnen und -musiker.»

«Ich überzeuge sie auf ‹musikalische Weise›»

«Die Qualität ist mir wichtig. Die Konzertbesucherinnen und -besucher zahlen einen anständigen Preis für ihr Billett. Deshalb wollen wir ein Produkt abliefern, an dem wir hart gearbeitet haben und hinter dem wir stehen können. Beim Canto Classico stimmt das Niveau, weil ich den Sängerinnen und Sängern viel abverlange.

«Man kommt eigentlich nie ganz ans Ziel – und wenn, dann war es zu tief angesetzt.»

Willi Derungs, Dirigent Canto Classico

Wir realisieren mehrere Projekte im Jahr. Das bedeutet, dass sie Vorkenntnisse mitbringen und auch zuhause am Material arbeiten müssen. Ich versuche immer eine klare Vorstellung davon zu haben, was ich umsetzen will, und fordere das auch. Ich möchte nichts erzwingen, ich versuche die Leute ‹musikalisch zu überzeugen›. Sie merken, wie involviert man selber ist, und das reisst sie mit. Wir arbeiten an einem Stück so lange, bis wir in die Nähe dessen kommen, was ich anstrebe. Man kommt eigentlich nie ganz ans Ziel – und wenn, dann war es zu tief angesetzt. Je weniger Vorkenntnisse die Sängerinnen und Sänger mitbringen, desto stärker ist man in der Rolle des Lehrers. Je besser die Musikerinnen und Musiker sind, desto eher ist es ein künstlerisches Schaffen.»

«Viele Chöre bedeuten grosse Konkurrenz»

«Einerseits ist es natürlich positiv, gibt es in Bern so viele Chöre und Chorkonzerte. Andererseits bedeutet das auch grosse Konkurrenz – sowohl in Bezug auf die Sängerinnen und Sänger als auch beim Publikum. Es ist fraglich, ob es so viele Chöre in Bern braucht. Das Angebot ist gross und die Qualität ist nicht überall gleich hoch.

«Die Kirchenchöre sind am überal- tern, und die Männerchöre haben die Entwicklung verpasst.»

Willi Derungs, Dirigent Canto Classico

Die Kirchenchöre sind am überaltern, und die Männerchöre haben die Entwicklung verpasst, was das Repertoire angeht. Die Tendenz geht weg von grossen achtzig- bis hundertköpfigen Chören hin zu kleineren Vokalensembles. Oder die Chöre suchen sich mit einer spezifischen Gattung eine Nische. Einer unserer Schwerpunkte ist die Oper, und wir haben Erfolg damit. Diese Musik mag musikalisch weniger komplex sein, dafür kann man aber an der Sprache arbeiten, und die Werke sind rhythmisch interessant. Viele Menschen haben Mühe mit geistlicher Musik. Mit einem Opernprogramm spricht man auch ein anderes Publikum an und kann vielleicht auch Vorurteile gegenüber klassischer Musik abbauen.»

«Das Wissen bildet die Basis»

«Aufgewachsen bin ich im Graubünden. Meine Mutter hat immer gesungen und mein Vater spielte in der Dorfmusik. Alle vier Geschwister haben Trompete gelernt. Das hat auch eine gewisse Konkurrenz erzeugt. Und natürlich waren wir auch alle in der Dorfmusik. Förderung hiess dort ‹untertauchen oder schwimmen›, das hat zum Üben motiviert. Ich wurde schnell Vize-Dirigent und habe dadurch meine Leidenschaft fürs Dirigieren entdeckt. Den Weg zur klassischen Musik habe ich im Gymnasium gefunden. Nach der Matura bin ich erst nach Bern gekommen, weil die Universität Bern für das mathematische Institut bekannt war. Ich habe angefangen Mathematik im Hauptfach und Musikwissenschaft im Nebenfach zu studieren.

«Ich musste daran arbeiten, auch Gefühle zu zu lassen, und es manchmal einfach passieren zu lassen.»

Willi Derungs, Dirigent Canto Classico

Irgendwann musste ich mich aber für das entscheiden, was mich am meisten interessierte, und das war die Musik. Aber auch das Fach Geschichte faszinierte mich. Erst wenn man ein fundiertes historisches Wissen hat, wenn man den politischen und kulturwissenschaftlichen Charakter einer Epoche kennt, kann man ein Werk einbetten. Ich möchte wissen, was es neben Haydn noch gegeben hat – die Kunstmusik der Epoche ist nur die Spitze eines ganzen Eisbergs. Ich bin ein Analytiker, mein primärer Zugang zur Musik ging immer über den Kopf. Während meiner musikalischen Ausbildung musste ich daran arbeiten, auch Gefühle zuzulassen, und es manchmal einfach passieren zu lassen. Das gilt auch für die Chorsängerinnen und -sänger: Man kann den Leuten einiges erklären, gewisse Dinge müssen sie aber selber fühlen. Das Analysieren hilft, vieles zu verstehen, aber das Entscheidende passiert beim aktiven Musizieren übers Empfinden, das Intuitive. Da kann man nicht mehr alles verstehen. Ich brauche beide Seiten. Das Wissen bildet die Basis, auf der ein Werk entstehen kann. Beim Musizieren ist aber alles, was man gespeichert hat, vergessen. Man steht wie fast nackt da und muss das Werk neu entstehen lassen. Da nützt dir das theoretische Wissen über die Beschaffenheit einer Akkordfolge nichts mehr.»

«Das Niveau steigern, ohne fanatisch zu werden»

«Mit dem Chor möchte ich nach den turbulenten Jahren die Konsolidierungsphase weiterführen. Ich will das Niveau steigern, ohne fanatisch zu werden. Man kann letztendlich nicht erwarten, dass die Sängerinnen und Sänger nur noch für den Chor arbeiten. Dennoch möchte ich geschulte Stimmen haben, damit man auch anspruchsvolle Werke angehen kann. Ich würde auch gerne seltene und zeitgenössische Stücke aufführen. Das ist schwierig. Solche Projekte bedeuten immer auch ein finanzielles Risiko. Hier muss ich die Balance finden zwischen spannenden Projekten und einer Sicherheit, damit der Chor weiter bestehen kann. Ich könnte mir auch eine Zusammenarbeit mit Institutionen wie Konzert Theater Bern vorstellen. Wieso nicht die starren Grenzen zwischen Berufsmusik und ambitionierter Amateurmusik niederreissen und gemeinsam etwas auf die Beine stellen?»