Dekontamination und Entsorgung (Teil I)

von Christoph Reichenau 25. März 2021

Das Wandalphabet der Künstler Eugen Jordi und Emil Zbinden im Schulhaus Wylergut, seit einem Jahr beschädigt, soll entfernt und in einem Museum mit wissenschaftlicher Erläuterung gezeigt werden. Das ergibt ein Wettbewerb der Kommission für Kunst im öffentlichen Raum. Manches ist noch offen, doch die Stossrichtung ist klar: Das Werk soll weg. Teil 1: Bericht.

Das Primarschulhaus im Wylergut ist in den 1940er Jahren gebaut worden. Es weist beim Eingang grosse Fresken mit Zoo und Tieren auf. Tritt man in die Halle mit dem Treppenhaus erblickt man ein Wandbild, zwei Stockwerke hoch.

Das Wandbild

Es ist das «Illustrierte Alphabet». Mit jedem Buchstaben beginnt ein Wort, das quadratisch abgebildet ist. Das Alphabet zeigt bei «C» einen Menschen mit gelber Haut, bei «I» einen Menschen mit Federschmuck, und das «N» bildet eine schwarze Person. Gemalt haben das Wandbild 1940 die bekannten Berner Künstler Eugen Jordi (1894-1983) und Emil Zbinden (1908-1991).

Das Bild entsprang einem Auftrag der Stadt an drei Künstler. Rudolf Mumprecht, der jüngste, arbeitete beim Eingang, Jordi und Zbinden am Alphabet im Treppenhaus. Die Fresken gehören zur originalen Ausstattung des Schulhauses und gelten denkmalpflegerisch als erhaltenswert.

Obwohl das Werk wegen der drei Buchstaben-Tafeln seit fast zwei Jahren immer wieder erwähnt wird, hat sich niemand ernsthaft gefragt, mit welcher Absicht Jordi und Zbinden 1949 ihre Sujets gewählt haben. Mit C, I und N hätten sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Schulkindern den Blick in die Welt öffnen wollen und Neugier wecken für fremde Kulturen, andere Menschen. Das wäre das Gegenteil von Rassismus und Kolonialismus.

Die Künstler

Die Künstler Ernst Jordi und Emil Zbinden waren sozial engagiert und Kämpfer für gerechte Verhältnisse. Sie vertraten einen «universalistischen Humanismus» (wie Martin Bieri im «Bund» schrieb), waren überzeugte Antifaschisten und können nicht einer rassisistisch-kolonialistischen Weltsicht bezichtigt werden. In den 1930er Jahren trat Zbinden gegen die Nazis an. Er gab der Büchergilde Gutenberg ein Gesicht mit seinen Illustrationen und wurde bekannt mit Holzschnitten zu Gotthelf-Romanen. Gewiss waren weder Jordi noch Zbinden ganz frei von den Empfindungen und Anschauungen ihrer Zeit.

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Als Emil Zbinden 2016 aus Anlass des 25. Todestages mit Gedenktafeln an seinen Arbeitsstätten geehrt wurde, sagte Stadtpräsident Alex Tschäppät: «Was für uns Linke wichtig war: Zbinden hatte sein Herz politisch immer auf der richtigen Seite und bekannte sich klar zur Arbeiterschaft. Eine entsprechende Prägung erhielt auch das ländliche Leben, wenn er es darstellte. Er hat sich nie verleugnet und immer eine klare politische Haltung vertreten». (Journal B berichtete, 2016)

Der Wettbewerb

Nach einem Hinweis des Berner Rassismusstammtischs nahm die städtische Kommission für Kunst im öffentlichen Raum 2019 das «Illustrierte Alphabet» als beispielhafte Chance. Als Chance über Berns Anteil an der Kolonialzeit nachzudenken und deren kulturellen Niederschlag im öffentlichen Raum und im Zusammenhang mit der Schule zu erkunden. Die Kommission redete mit zahlreichen Expertinnen und Experten, von denen sie etwa hörte, das Wandbild solle nicht kommentarlos entfernt, sondern als Lernanlass genutzt werden. Und es seien Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen. Schliesslich setzte die Kommission eine Fachjury ein, die einen Wettbewerb ausschrieb mit dem Ziel, «das implizit rassistisch geprägte Kunstwerk zeitgenössisch zu verorten und zu diskutieren». Dies sollte mit einer Arbeit geschehen, die Kunst, Pädagogik und Politik vereint. Angesprochen waren Teams, die künstlerische Kompetenz sowie Fachwissen in Vermittlung, Pädagogik und Rassismuskritik mitbringen.

Im November 2019 gingen 25 Ideenskizzen ein. Die Jury lud fünf Teams ein, ein ortsspezifisches Projekt auszuarbeiten mitsamt konkretem Input für den zeitgemässen Einbezug des Wandbilds im Schulalltag.

Die fünf weiter entwickelten Projektvorschläge wurden im August/September 2020 im Kornhausforum präsentiert. Am 9. September 2020 entschied sich die Jury einstimmig für den Vorschlag «Das Wandbild muss weg!». Sie beantragt der Kommission für Kunst im öffentlichen Raum, das Projekt umsetzen zu lassen und den gesamten Umsetzungsprozess zu dokumentieren.

Zum Auftakt der Aktionswoche gegen Rassismus wurden am 20. März 2021 die Resultate des Wettbewerbs öffentlich online vorgestellt.

Die Beschädigung

Während der Wettbewerb lief, übertünchten Aktivisten im Juni 2020 die Tafeln C, I und N mit schwarzer Farbe. Sie beschädigten das Kunstwerk absichtlich. Eine Gruppe, die sich «fight white supremacy» nennt, bekannte sich am 17. Juni im Internet dazu: «Wir haben das N-, I- und C-Bild übermalt. Wir wünschen den Lehrpersonen und den Schüler*innen Auseinandersetzungen mit den eigenen Privilegien und Unterdrückungen. Vielleicht ist es an der Zeit neue Fächer zu schaffen, die Beteiligung der Schweiz an der Kolonisierung anzuerkennen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen.» (www.barrikade.info/article/3604)

Der Gemeinderat der Stadt Bern, welcher das Wandbild gehört, verzichtete nach dem Vandalenakt auf eine Anzeige, weil er die Kritik am Bild und die Ungeduld und Wut nachvollziehen könne, die hinter dem Protest stünden. Bedauerlich sei indes die Art und Weise des Protests. Der Entscheid, keine Anzeige zu erstatten, kam nicht überall gut an. Jürg Lädrach, Schulleiter der Primarschule Wylergut, war damit nicht einverstanden.

Für mich ist es heuchlerisch, dass die Stadt einerseits das Werk zum Exempel für eine grosse Diskussion macht und es andererseits ungeahndet amputieren lässt. Für mich nimmt dies dem grossen Anlauf mit Wettbewerb und Projekt einen Grossteil der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit.

Das Projekt

Das Vorhaben «Das Wandbild muss weg!» besteht – wie Projektleiterin Annina Zimmermann erläutert – aus fünf Teilen:

  1. Das Wandbild wird mit den schwarz übertünchten Tafeln im Schulhaus entfernt und in ein Museum überführt. Hier soll es «eine Praxis der kritischen Aufarbeitung der Berner Kolonialgeschichte initiieren», zum Beispiel in Form einer Ausstellung.
  2. Der Prozess wird durch Medienarbeit, Workshops für Schüler*innen und Lehrkräfte und Podiumsdiskussionen begleitet.
  3. Der Prozess des Ab- und Aufbaus wird in einem Film festgehalten. Die Dokumentation wird im Schulhaus neben der nun leeren Stelle des ehemaligen Wandbilds gezeigt.
  4. Auf einer Website entsteht ein «Archiv mit Materialien zur Entstehung, Entfernung und Rekontextualisierung des Wandbilds für verschiedene Altersstufen».
  5. Zudem will das Team ein Konzept für ein Lehrmittel für den dekolonialen Unterricht erarbeiten, welches ausserhalb des Projektes zu realisieren wäre.

Dass das siegreiche Projekt die ursprüngliche Absicht konterkariert, das Wandbild im Schulhaus zu belassen, begründet Jurymitglied Jürg Lädrach damit, es weise die grösste Schnittmenge der vielen Interessen und Erwartungen auf. Und Manches müsse jetzt erst noch geklärt werden: Welches Museum? Welche Präsentation? Und lässt das Fresko sich überhaupt ohne Schaden ablösen?

Die Hochschule der Künste ist bei der Umsetzung dabei. Das Projektbudget der Stadt beträgt 55‘000 Franken inkl. Honorare. Ein zu gründender Verein soll zusätzlich den Aufwand für Entfernung und Transport des Wandbilds berappen.

Erstes Fazit und drei Fragen

Das «Illustrierte Alphabet», vor 71 Jahren geschaffen, kann nicht ohne Bezug zu den gewandelten Auffassungen sowie zum heutigen gesellschaftlichen Diskurs bestehen bleiben. Eugen Jordi und Emil Zbinden selbst hofften auf soziale und politische Veränderungen. Das Werk muss nach den aktuellen Kenntnissen, Einsichten und Überzeugungen zu Kolonialismus und Rassismus neu betrachtet und kritisch beurteilt werden: Wie gehen wir mit diesen grossen Fragen um?

So weit sind sich wohl alle einig. Doch wird der berechtigte Impuls auf den richtigen Gegenstand gerichtet: Eignet sich das Wandbild als exemplarisches Objekt? Falls es sich eignet, kann das Projekt sein Ziel erreichen? Und was bedeutet das für die Einschätzung des Werks von Emil Zbinden?

Teil 2 folgt.