Ein neuer Bericht, eine neue Lage

von Christoph Reichenau 23. Februar 2021

Ein vom Gemeinderat eben veröffentlichter Bericht zeigt: Es gibt langfristige Überlegungen zur Entwicklung des Grossraums Bahnhof. Die Abstimmungsvorlage vom 7. März ist mit den Vorstellungen vereinbar. Spricht dies für ein Ja oder für ein Nein?

Seit zwei Wochen liegt das offizielle Büchlein zur Gemeindeabstimmung vom 7. März bei den Stimmberechtigten. Einige haben wohl zu den «Bau- und Verkehrsmassnahmen im Zusammenhang mit dem Ausbau des Bahnhofs Bern» bereits brieflich Ja oder Nein eingelegt. Andere nehmen fast täglich Kenntnis von der harten Auseinandersetzung über die Vorlage. Gegner kritisieren Verwaltung und «Obrigkeit»: Sie handelten «ungeschickt und fantasielos», seien inkompetent und unfähig. Ein Komitee schimpft die geplante Fussgängerunterführung unter dem Bubenbergplatz zum Hirschengraben eine «Idee von vorgestern». Die Befürworter halten dagegen – etwa mit einer Simulation, wonach ohne Unterführung die Busse im Stau stehen werden. Sie wünschen ein Ja für die «öV-Stadt Bern».

Führt ein Ja am 7. März zur zwingenden Lösung oder zu weiteren Sachzwängen, deren es rund um den Bahnhof seit Jahrzehnten immer mehr gibt? Öffnet ein Nein das Chaos oder die Chance zur Neubeurteilung der Lage in einem erweiterten Perimeter?

Anfang Februar bin ich im Journal B für ein Nein als Chance zu neuen Überlegungen eingetreten. Ähnlich sieht es die Sektion Bern des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA. Sie hat am 12. Februar Ablehnung empfohlen. Kurz danach beschloss die Grüne Freie Liste die Nein-Parole.

Nun, da die Vorlage ernsthaft bedroht erscheint, veröffentlicht der Gemeinderat am 18. Februar einen Bericht mit dem Titel «Planungsprozess Stadtraum Bahnhof, langfristiges Zielbild», ein 44-seitiges Dokument verfasst in einer technischen Sprache.

Worum geht es?

Es ist ein Zwischenbericht, datiert vom 11. Februar 2021. Der Auftrag dazu stammt vom Stadtrat. Dieser verlangte im Frühjahr 2018 zur Beurteilung der jetzt zur Abstimmung stehenden Bauprojekte «eine Gesamtsicht und ein langfristiges Zielbild für den Stadtraum Bahnhof». Seine Forderung: Die mit dem Bahnhof zusammenhängenden Bauprojekte müssen mit dem Zielbild vereinbar sein.

Seit Sommer 2018 arbeiten unter Leitung des Stadtplanungsamts ein Konzeptteam, eine verwaltungsinterne Spurgruppe sowie unabhängige Expertinnen und Experten. Sie erstatteten im November 2019 einen ersten Zwischenbericht. Er kam zum Schluss, die Baumassnahmen gemäss Abstimmungsvorlage seien mit dem langfristigen Zielbild kompatibel.

Der jetzt publizierte zweite Zwischenbericht bekräftigt die Kompatibilität aufgrund mehrerer Entwicklungsvarianten die Kompatibilität.

Weshalb erst jetzt?

Das ist interessant. In seiner ablehnenden Stellungnahme zur Abstimmungsvorlage erwartet der SIA, «dass den diversen Massnahmen (…) eine städtebauliche zukunftsfähige Gesamtsicht zugrunde gelegt wird». Es bestehe sonst die Gefahr, «dass das bestehende Flickwerk um den Hauptbahnhof weitergeführt wird.» Der SIA verlangt: «Die Bau- und Verkehrsmassnahmen sind unter ganzheitlicher Berücksichtigung städtebaulicher, denkmalpflegerischer und verkehrstechnischer Aspekte zu überarbeiten; für den gesamten Projektperimeter ist ein gestalterisches Leitbild zu entwickeln.»

Einen Ansatz zu dem, was der SIA heute vermisst, enthält der nun veröffentlichte Zwischenbericht. Allerdings: Seine Forderung hat der SIA im Verbund mit einem Dutzend Bauplanungsfachverbänden bereits im April 2019 erhoben (und jetzt wiederholt). Er tat dies damals im Rahmen der öffentlichen Mitwirkung zu den Bahnhofmassnahmen. Die Stadtverwaltung ging darauf nicht ein. Im Gegenteil. Im Abstimmungsbüchlein steht: «Grundsätzliche Projektanpassungen waren aufgrund der Mitwirkungseingaben nicht erforderlich.» Ist das unehrlich oder haben sich die Zeiten einfach geändert?

Und nun?

Jetzt also veröffentlicht der Gemeinderat den Bericht «wegen des öffentlichen Interesses im Kontext der Abstimmung» vom 7. März (Medienmitteilung). Er hofft, damit zu punkten, dass der Bericht erklärt, die Vorlage sei mit den langfristigen Entwicklungsideen vereinbar. Die Publikation ist zu begrüssen. Es gibt indes zwei Probleme.

Problem eins: Weshalb kam der Bericht nicht früher ans Licht? Seit dem 8. Februar können die Stimmberechtigten abstimmen. Zur Meinungsbildung beitragen kann der Bericht noch bei jenen, die erst ab jetzt abstimmen. Dies benachteiligt Viele.

Der Bericht ist zudem auf der Website der Stadt Bern nicht gerade leicht auffindbar. Um ihn zu suchen muss man wissen, dass es ihn gibt. Dies schafft nur bedingt Öffentlichkeit.

Problem zwei: Der Bericht lässt sich vor der Abstimmung kaum seriös würdigen. Dies bedauern in einer Stellungnahme vom 22. Februar die Planungsverbände SIA, BSA, FSAI und SWB. Für sie ist „das aktuelle Ergebnis letztlich nicht zuverlässig beurteilbar“. Die Verbände empfehlen deshalb ein Nein.

Dennoch verändert die Existenz des Zwischenberichts die Ausgangslage der Abstimmung. Wer Ja stimmt darf nun beanspruchen, einer weiterführenden Planung keine zusätzlichen Steine in den Weg zu legen. Wer zu einem Nein kommt, weiss, dass es für die Erarbeitung einer neuen Lösung ein langfristiges Zielbild gibt, an dessen allfälligen Mängeln man weiterarbeiten kann. Der Zeitdruck nach einem Nein wird dadurch ein bisschen weniger drückend.

 

Kommentar

Glücklich wir Bernerinnen und Berner, die über diese Vorlage streiten können, wie wenn es um die Welt ginge. Dabei geht es im Wesentlichen um eine 60 Meter lange Unterführung für eine Summe, die im Vergleich mit den Finanzfolgen der Pandemie gering erscheint. Und allenfalls um ein paar Kastanienbäume in einer barocken Parkanlage.

Dennoch: Es geht um uns. Um unsere Verantwortung hier und jetzt. Um die nähere Zukunft eines wichtigen Platzes in unserer Stadt. Dass wir darüber streiten, ist gut. Dass die Gegner dies mit Titelhuberei und einer grobschlächtigen, plakativen Ästhetik tun, die nicht zum Feinsinn der Argumente passt, stösst mich als Neinsager ab.

Blicken wir voraus auf das Jahr 2035. Dann sollen der Bubenberg- und der Bahnhofplatz den Fussgänger*innen, den Velofahrer*innen und dem öV gehören, und in der Mitte des Platzes wird Adrian von Bubenberg mit gepanzerter Faust gegen Westen blicken. Die Fahrgäste aus dem RBS-Tiefbahnhof gelangen – wo immer genau – am Rand des Platzes ans Licht. Des Platzes, der dann ein weites Vorfeld des Bahnhofs bilden wird.

Wie kommen wir zu dieser Vorstellung? Indem wir am 7. März Nein sagen. Was dann? Sicher ist: 2027 muss ein möglichst gescheiter Zugang über den Bubenbergplatz zum Bahnhof bestehen. Nach dem Wundenlecken müssen Sieger*innen, Verlierer*innen und Fachleute bald um einen Tisch versammelt werden. Die Zeit ist knapp, es braucht eine konstruktive Haltung aller. Zwingend ist eine Person, die das Gespräch leitet: Unvoreingenommen, sachlich, fordernd, lösungsorientiert, das Kurzfristige in eine langfristige Perspektive einbettend. Dies kann nur, wer in die bisherige Entwicklung nicht oder möglichst wenig verstrickt ist, die Legitimation einer Wahl durch das Volk hat und sachzuständig ist. Mir fällt nur ein Name ein: Marieke Kruit.