Ryser vs. Schweiz

von Rahel Schaad 22. Februar 2021

Jonas Ryser wurde durch ein medizinisches Gutachten als untauglich für den Militärdienst erklärt. Da seine Beeinträchtigung jedoch als gering eingestuft wurde, musste er Ersatzzahlungen leisten. Das sei diskriminierend, fand Ryser und legte 2008 dagegen Beschwerde ein. Diese zog er bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter und bekam Mitte Januar – nach dreizehn Jahren – Recht.

Was war die Ausgangslage deiner Beschwerde, die du 2008 eingelegt hast?

Jonas Ryser: Aufgrund eines medizinischen Gutachtens wurde ich damals als militärdienstuntauglich aber zivilschutzpflichtig eingestuft. Meine gesundheitliche Beeinträchtigung verbot es mir, den Militär- oder Zivildienst zu absolvieren, befreite mich aber nicht vom Zivilschutzdienst. Da es aber zu viele Anwärter für die Zivilschutzeinsätze gab, wurde ich in die Reserveliste eingeteilt und musste volle Wehrpflichtersatzzahlungen leisten. Aufgrund meiner geringfügigen Einschränkung wurde ich damit diskriminiert gegenüber denen, welche unter schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen litten und von den Ersatzzahlungen befreit waren.

 

Wie bist du auf die Idee gekommen, gegen deine Wehrpflichtersatzzahlungen Beschwerde einzulegen?

Ich studierte damals im Nebenfach Recht und habe in einem Seminar eine Hausarbeit über den Fall Glor geschrieben. Glor war ein Diabetiker, wurde deshalb als untauglich eingestuft und musste dafür Wehrpflichtersatzabgaben zahlen. Er hatte 1999 Beschwerde wegen Diskriminierung eingelegt, wofür er vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg letztlich Recht bekam. Da ich mich in einer vergleichbaren Situation befand, habe ich mich dazu entschieden, ebenfalls Beschwerde einzulegen – quasi als Praxisversuch.

 


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Die Beschwerde hast du also selbst geschrieben?

Ja genau. Erst als die Beschwerde am Europäischen Gerichtshof die Vorprüfung bestanden hatte, brauchte ich einen Anwalt. Man tritt in Strassburg gegen einen Staat an, also einen mächtigen Gegner – deshalb ist dort Anwaltspflicht. Aber zu Beginn habe ich mir gesagt, bis zur ersten Instanz kann man das auch ohne Anwalt machen, also versuche ich das. Dann hat mir jemand gesagt, dass ich die Beschwerde doch weiterziehen solle, eigentlich gehe das ja auch ohne Anwalt (lacht). Ich glaube, ohne Ermutigung hätte ich das wohl nicht bis zum Ende weitergezogen.

 

Warum?

Das ganze Prozedere hat sehr viel Energie und Zeit gekostet. Die Beschwerde ging durch drei Instanzen und dann nach Strassburg. Nachdem die Wehrpflichtersatzverwaltung meine Beschwerde zurückgewiesen hatte, zog ich sie weiter zur Steuerrekurskommission. Diese wendete ein Ping-Pong-Verfahren an, bei welchem mehrere Parteien mehrmals zu der Beschwerde Stellung beziehen konnten, auf die ich jeweils antworten musste. Als die Beschwerde auch da abgelehnt wurde, wendete ich mich an das Bundesgericht und schliesslich an den EGMR in Strassburg. Ich habe Unmengen an Textseiten geschrieben. Und es gab auch Reaktionen, welche sehr angriffig waren. Bei der Wehrpflichtersatzverwaltung hatte ich das Gefühl, dass sie meine Beschwerde da ziemlich persönlich nahmen. Da musste ich die Briefe auch manchmal einige Tage ruhen lassen, um eine möglichst sachliche Antwort darauf geben zu können.

 

Aber nun hat es sich gelohnt – nach dreizehn Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deine Beschwerde gutgeheissen. Was bedeutet das nun für dich?

Ja, einerseits ist das natürlich schön, dass ich nicht alles für nichts gemacht habe. Und ich habe nun Anrecht darauf, meine Ersatzzahlungen und die Gerichtskosten zurückgezahlt zu kriegen. Andererseits bedeutet das aber auch wieder erneuten Aufwand: Nun muss ich vermutlich beim Bundesgericht eine Revision des Urteils verlangen. Und dann ist zu hoffen, dass sich die Wehrpflichtersatzverwaltung an das Strassburg-Urteil hält. Ansonsten müsste ich deswegen eine neue Beschwerde beim Bundesgericht einlegen, was ärgerlich wäre. Aber das wird sich nun alles zeigen.

Auf jeden Fall werde ich an diesem Punkt jetzt nicht aufgeben. Die Chance, in Strassburg zu gewinnen, ist enorm gering. Wenn ich muss, werde ich schon noch einmal in die Sache investieren.

 

Und was bedeutet der Entscheid für die Schweiz – wird sie ihre Praxis nun ändern müssen?

Leider kaum. Seit 2008 wurde das Recht zum Wehrpflichtersatz mehrmals geändert und die Verantwortlichen werden sich wohl auf den Standpunkt stellen, dass aktuelle Fälle weder mit meinem noch mit dem von Glor vergleichbar seien – was sie bei mir schon behaupteten, als ich sie auf den Fall Glor hinwies. Es existiert nun so eine Pseudolösung: Wer untauglich ist, aber unbedingt ins Militär will, für den sucht man eine Funktion in der Armee, die er erfüllen kann.

 

Du scheinst nicht viel von dieser Lösung zu halten?

Nein, das ist meiner Meinung nach eine politisch gewollte in der Praxis untaugliche Lösung, die niemandem etwas bringt – am allerwenigsten der Armee, die nun für Untaugliche eine sinnvolle Funktion suchen soll. Die sehr viel bessere Lösung wäre, wenn man Militärdienstuntaugliche zum Zivildienst zulassen würde. Im Zivildienst wäre es sehr viel einfacher für einen Militärdienstuntauglichen eine sinnvolle Position zu finden, als in der Armee. Aber das wollte man politisch einfach nicht. Die Tendenz ist die umgekehrte: Man versucht den Zivildienst immer unattraktiver zu machen.

 

Also hat der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte doch nicht sehr viel bewirkt?

Was ich beim Schreiben der Seminararbeit damals besonders unbefriedigend fand, ist dass Strasburg im Fall Glor ein Urteil fällte, und die Schweiz sich nicht ernsthaft um eine Lösung des Problems bemüht hat. Jedes neue Urteil wird die zuständigen Personen im Bundesamt für Justiz und die Politik ein wenig mehr dazu zwingen, eine sinnvolle Lösung zu suchen. Ich hoffe, dass sich das Recht so in eine positive Richtung entwickeln wird – wenn auch ganz langsam.