Der Grundbedarf muss objektiv bestimmt werden

von Christoph Reichenau 20. April 2019

Sozialhilfe ist mehr als Nothilfe. Sie deckt das Minimum, das man zum Leben braucht – nicht nur zum Überleben. Zum Leben gehört auch soziale Teilhabe. Der Grundbedarf in der Sozialhilfe muss wissenschaftlich erhoben und darf nicht willkürlich gekürzt werden.

Am 19. Mai stimmen die Bürgerinnen und Bürger im Kanton Bern über eine Revision des Sozialhilfegesetzes ab. Der Vorlage des Grossen Rats steht ein Volksvorschlag gegenüber. Gestritten wird über das nötige Minimum an Sozialhilfe, um Ansprüche und Anreize. Gefochten wird mit Zahlen.

In dieser Stunde der Arithmetik tut es gut, sich auf die Grundlage zu besinnen: Was soll Sozialhilfe? Was ist der Grundbedarf? Wie wird er ermittelt, um dem Verfassungsrecht der Menschenwürde zu entsprechen? Der in einer Fachzeitschrift erschienene Artikel des spezialisierten Rechtsanwalts Pierre Heusser widmet sich diesen Fragen (Pierre Heusser, Der Grundbedarf in der Sozialhilfe: Von der Wissenschaft zur Willkür, in: Jusletter 11. Dezember 2017). Wir fassen ihn hier zusammen.

Umfassender als Nothilfe

Art. 12 der Bundesverfassung regelt das Recht auf Hilfe in Notlagen: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» Für das Bundesgericht ist klar: Hier geht es um ein Minimum im Sinne einer «Überbrückungs- oder Überlebenshilfe». Sie beschränkt sich auf das absolut Notwendige (Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Grundversorgung) und ist auf die konkreten Umstände zugeschnitten.

Damit unterscheidet sich gemäss Bundesgericht «der verfassungsmässige Anspruch auf Hilfe in Notlagen vom kantonalen Anspruch auf Sozialhilfe, die umfassender ist.»

Staatliche Unterstützungsleistungen, die über längere Zeit erfolgen und die von den ordentlichen Sozialhilfebehörden ausgerichtet werden, müssen «zwingend mehr sein (…) als reine Nothilfe. Sie müssen eben Sozialhilfe sein. Diese garantiert (…) das soziale Existenzminimum und nicht das nackte Überleben» (Heusser).

Das soziale Existenzminimum setzt – über die reine Überlebens-Nothilfe hinaus – «ein Mindestmass an sozialer Integration und an Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben voraus.» So urteilte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern 2001. Das Mass des sozialen Existenzminimums ist der sogenannte Grundbedarf in der Sozialhilfe.

Bis 2016 statistisch erhoben

Der Grundbedarf ist 1998 von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) in ihren Richtlinien eingeführt worden, um in der ganzen Schweiz eine einheitliche Regelung zu gewährleisten. Mit dem Grundbedarf sollen Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfe den täglichen Lebensunterhalt bezahlen und die Ausgaben des täglichen Bedarfs decken können. Zusätzlich finanziert die Sozialhilfe den unterstützten Personen die Miete für die Wohnung und die Prämien der Krankenkasse.

Ursprünglich wurde der Grundbedarf so festgelegt, dass von der Sozialhilfe abhängige Personen gleich viel Geld erhielten wie die untersten 20% der Einkommensskala. Grundlage der Skala war eine regelmässige Erhebung der Haushaltabgaben durch das Bundesamt für Statistik.

Bei der Revision der SKOS-Richtlinien 2005 wurde der Grundbedarf von der Universität Bern berechnet und auf der Höhe der untersten 10% der Haushalte festgelegt. Entsprechend senkte sich der Grundbedarf. Er belief sich für eine Person auf 986 Franken pro Monat. Mit den gleichzeitig eingeführten Integrationszulagen wurden allerdings Anreize geschaffen für jene, die arbeiten oder in Programmen zur Integration in den Arbeitsmarkt mitwirkten. Für Mehrpersonenhaushalte und Kinder unterschiedlichen Alters wurde der Grundbedarf differenziert.

Dies galt bis 2016. Bis dann basierte der Grundbedarf also auf statistisch erhobenen und wissenschaftlich ausgewerteten Zahlen. Die Berechnung war klar und nachvollziehbar.

2016 änderte das. Mit der jüngsten Revision der Richtlinien wurde der Grundbedarf von der statistischen Basis abgekoppelt. Die SKOS hatte beim Bundesamt für Statistik eine neue Erhebung bestellt. Ergebnis: Der Grundbedarf müsste auf 1’076 Franken angehoben werden. Doch die an Stelle der SKOS neu für die Festlegung des Grundbedarfs zuständige Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) beliess es aus politischen Gründen beim alten Betrag.  Sie schuf damit eine Differenz von 90 Franken oder 9% pro Monat zum realen sozialen Existenzminimum einer Person. Zudem kürzte sie ohne statistisch oder empirisch erhobene Begründung den Grundbedarf für Jugendliche bis 25 Jahre (um 20% auf 789 Franken).

Widerspruch zur Verfassung

Der Grund für das Handeln der SODK: Der öffentliche Druck auf die Sozialhilfe war wegen einzelner Missbrauchsfälle, wegen der Zunahme der Bezügerinnen und Bezüger sowie wegen der gewachsenen Bezugsdauer von Sozialhilfe gestiegen. Die SODK wollte dieser Stimmung entgegenwirken. Sie handelte politisch. Und desavouierte dadurch die Fachorganisation SKOS: Diese hatte mit ihren Studien die wissenschaftliche Basis für den Grundbedarf geliefert, die SODK folgte ihr ohne nachvollziehbare Gründe nicht.

Den öffentlichen Druck fing die SODK damit nicht auf. Im Gegenteil: Durch ihr Handeln lud sie eher noch dazu ein, aus rein finanziellen Erwägungen den Grundbedarf mehr und mehr zu senken – ungeachtet des eigentlichen sozialen Existenzminimums. Ein festes Mass, quasi den sozialpolitischen «Urmeter», gibt es nicht mehr. Alle können behaupten, niemand steht mehr auf festem Grund.

Die ins Willkürliche abdriftende Debatte mit «freihändiger» Festlegung von Beträgen steht im Widerspruch zur Bundesverfassung. Diese fordert statistische Grundlagen und verpönt Festlegungen «ins Blaue hinein».

Entscheidend sind zwei Grundsätze:

– Sozialhilfe ist mehr als Dauer-Nothilfe. Sie garantiert nicht nur die «physische Existenz des Menschen», sondern auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmass von Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. «Denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen» (Verwaltungsgericht des Kantons Bern).

– Die hoch der Grundbedarf in Sozialhilfe ist, muss auf wissenschaftlicher Basis sachgerecht und vertretbar ermittelt und im Einzelfall anhand individueller Bedürfnisse und Besonderheiten festgesetzt werden. Wenn keine aktuellen statistischen Daten bestehen, müssen sie halt erhoben werden.

Werden beide Grundsätze nicht eingehalten, verletzt dies das Willkür- und Diskriminierungsverbot, das Gleichbehandlungsgebot, das Recht auf Existenzsicherung und letztlich die Menschenwürde der betroffenen Person. In Deutschland und England haben in vergleichbaren Situationen Gerichte Regelungen aufgehoben, die ohne empirische Basis «ins Blaue hinaus» getroffen worden waren. Es gibt also rechtliche Schranken gegen willkürlich festgelegten Grundbedarf.

Wo liegt die Grenze?

Um der Bundesverfassung treu zu bleiben, sind schwierige Fragen zu beantworten aufgrund objektiver Abklärungen. Pierre Heusser formuliert die Fragen so: «Wo genau, in Franken und Rappen, liegt die Grenze für eine menschenwürdige, teilweise jahrelang andauernde Sozialhilfe? Wie viel Geld muss einem Menschen monatlich zur Verfügung stehen, um über längere Zeit ein menschenwürdiges Leben führen zu können? Zwischen welchen Personenkategorien sind Unterscheidungen oder Abstufungen vorzunehmen?»

Heusser schliesst mit einem Plädoyer für die faktenbasierte Bestimmung des Grundbedarfs. Er verweist auf die hohe Zahl von rund 300‘000 Menschen, einschliesslich Kinder und Jugendliche, die in der Schweiz von Dauer-Sozialhilfe leben. Für sie alle ist «die Höhe des Betrags, den sie monatlich zum Leben erhalten, von grösster, ja existentieller Bedeutung.» Man könne deshalb nicht sorgfältig, nicht objektiv und sachgerecht genug sein in der Bemessung dieses Betrags. Dem ist nichts beizufügen.