Vertrauen als Geheimnis (Teil 2)

von Christoph Reichenau 31. Oktober 2018

Nach 12 Jahren Amtszeit ist Bernhard Pulver im Mai dieses Jahres nicht zur Wiederwahl in den Regierungsrat angetreten, in dem er – primär als Erziehungsdirektor – erfolgreich gewirkt hat. Gab es ein Erfolgsrezept? Der zweite Teil des Gesprächs mit dem alt Magistraten als neuem Privatmenschen. 

Eine unabdingbare Vorleistung ist es, die eigenen Karten auf den Tisch zu legen und seine Position dadurch beurteilbar zu machen. Man kann auf diese Weise zeigen, wie das eigene «Wissen», oder was man dafür hält, zustande gekommen ist. Dann beginnt auf Augenhöhe, zum Beispiel am Runden Tisch, die Entscheid-Findung oder besser die gemeinsame Entscheid-Entwicklung. Das ist keine taktische Sache, sondern eine inhaltsbezogene, denn niemand ist allwissend: Ich brauche die andern so gut wie die andern mich.

Der Weg an einen Runden Tisch ist gefährlich. Man wagt sich vor in eine Lage, in welcher die anderen bessere Argumente haben können. Der «Runde Tisch» ist ja nicht ein vorgegebenes Format. Er steht für eine offene Diskussion ohne Vorbedingungen, weiter ist nichts bestimmt. Man kann alles im Plenum behandeln, aber auch Themen auf einzelne Tische aufteilen. Wichtig ist eine klare, nicht hoheitliche Moderation: Keinesfalls darf der Moderator, gerade wenn er die «höchste» Position besetzt, einschüchtern oder verunsichern oder die Teilnehmenden zurückbinden, um eine vorgefasste Position durchzusetzen.

Wichtig ist dabei, laut Pulver: «Der Entscheidträger muss seine Ausgangsposition klar machen. Das schafft Vertrauen. Sonst entsteht der Eindruck einer hidden agenda. Niemand glaubt einem Regierungsrat, dass er ohne eigene Ziele in die Diskussion kommt. Gleichzeitig muss man dann aber glaubwürdig zeigen, dass diese Position diskutier- und verbesserbar ist und das man genau dazu an den Runden Tisch gekommen ist.» Sehr hilfreich sein können Rückfragen des Moderators zu vorgebrachten Auffassungen, auch kritische, um besser zu verstehen und Wertschätzung zu bekunden. Um den anderen anzuerkennen als Partner auf der Suche der bestmöglichen Lösung. Und um dabei zu erfahren, wer ich selber bin.

Und die Schüler und Schülerinnen?

Und wie werden in der Suche nach einer Lösung die einbezogen, um die es in vielen Fällen geht: die Schüler und Schülerinnen? Wie können sie sich selber äussern? Oder wer vertritt sie? Für Pulver war dies eine der grossen Fragen: «Auf der Ebene Volksschule ist es extrem schwierig, Schülerinnen und Schüler in die Debatten einzubeziehen. Ich habe es einige Male bei Schulbesuchen versucht und dann gemerkt, dass sie noch zu jung sind, um wirklich mitzudiskutieren. Bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hat es geklappt, die haben sogar eine Schülerorganisation, und zum Beispiel beim Übergang von halbjährlichen zu jährlichen Zeugnissen im Gymnasium war die Gesprächsrunde mit ihnen spannend. Bei ihnen ist allerdings das Risiko, dass die Autorität des Gesprächsleiters einschüchtert, noch grösser als bei Erwachsenen. Insgesamt: Das ist ein Schwachpunkt. Die Schülerinnen und Schüler habe ich insgesamt zu wenig einbezogen. Das müsste man weiter entwickeln.»

Funktioniert dies überall?

Funktioniert diese Methode auch in einer Regierung? Die Lage im Siebnerkollegium ist anders, der Raum des Vertrauens dreifach gestört: «Wir sind (waren) letztlich Konkurrenten und Konkurrentinnen. Das hat mit der regelmässigen Volkswahl zu tun, mit der ständigen Öffentlichkeit über alles, was die Regierung tut und wie sie es tut. Und schliesslich sind die öffentlichen Vergleiche zwischen den Regierungsratsmitgliedern. Einer der Vergleiche liegt auch im Wahlergebnis. Es ist halt eine öffentliche Zensur. Diese Elemente fördern den immer wieder gewünschten Teamgeist nicht. Vielmehr bringt es Konkurrenz, manchmal sogar Missgunst.»

Die im Turnus ausgeübte Rolle als Präsident ist enorm wichtig und wird oft unterschätzt. Sie beinhaltet viel mehr als «gardien des procédures» zu sein. Man kann sie durch die Anlage von Sitzungen und andern Treffen nutzen für eine ruhige Lösungssuche, zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.

Man wird als Regierungsrat für 4 Jahre gewählt. Die Lösung grösserer Probleme benötigt fast sicher mehr Zeit. Wiederwahl ist folglich nötig, um Angepacktes zu Ende führen zu können. Wie lässt es sich vereinbaren, einerseits die Wiederwahl anzustreben, ihr andererseits nicht alles unterzuordnen?

Pulver: «Das war für mich etwas ganz Wichtiges: Ich habe mir von Anfang an und jeden Tag gesagt: Ich kümmere mich nicht um diese Frage, alles was ich tue, ist ausgerichtet, wie wenn ich viele Jahre Regierungsrat wäre. Wir stressen uns nicht mit den vier Jahren. Wenn ich dann nicht wiedergewählt werde, tant pis. Aber die Vierjahresperspektive darf mich nicht beeinflussen.»

Kleinster gemeinsamer Nenner oder guter Kompromiss?

Ist das, was Bernhard Pulver als seine Methode schildert, tragfähige politische Lösungen für Probleme im Bildungswesen und im Kulturbetrieb zu finden, nun aussergewöhnlich? Falls ja, worin besteht das Besondere? Wenn Dürrenmatts Satz «Was alle angeht, können nur alle lösen» (17. Punkt zu den «Physikern») die Essenz der direkten Demokratie einfängt, ist Kritik eines ihrer Wesenselemente. Pulvers Methode erscheint in diesem Licht zwingend und folglich banal. Oder wäre sie zwar zwingend, aber keineswegs banal, da selten oder nie praktiziert?

Falls dem so wäre, wie sieht denn die reale Praxis aus? Etwa so, dass Lösungen im kleinen Kreis ausgedacht und anschliessend gegen Einwände, Widerstände, andere Vorschläge nicht neu abgewogen, sondern «durchgezogen» werden – auf die Gefahr hin, dass sie Schiffbruch erleiden? Warum? Weil «man» davon ausgeht, solch zackiges, bestimmtes und bestimmendes, (Selbst)-Sicherheit vermittelndes oder vortäuschendes Vorgehen werde von denen erwartet, denen auf Zeit Macht anvertraut ist und – damit verbunden – die Aufgabe, Entscheidungen herbeizuführen oder selber zu treffen? Es heisst ja oft über Politiker als Kompliment: «setzt sich durch, Schnelldenker, rasche Entscheidungen» – und ich bin gar nicht sicher, ob dies in einer Demokratie wirklich so positive Eigenschaften sind.

Ich greife eine Eigenschaft heraus: Besteht Selbstsicherheit darin, sich durchzutanken? Liegt sie nicht auch oder vielmehr darin, offen zu sein für Argumente und Vorschläge anderer, diese nach Prüfung anzunehmen und die eigene Position ganz oder teilweise zu revidieren? Für Vorstellungen anderer, denen man zubilligt, das Gleiche zu wollen, wie man selbst: das Beste für die Gesellschaft?

Gibt es die richtige Lösung?

Man kann diese Überzeugung Bernhard Pulvers blauäugig finden. Und man kann sie – und das tue ich – ernst nehmen. Dann stösst man unweigerlich auf die Frage, ob die von Pulver praktizierte Methode (wie oben dargelegt), nicht nur mehrheitsfähige, sondern auch gute Lösungen hervorbringt. Doch: Was macht eine gute Lösung in einer politischen Frage aus? Gibt es dafür objektive Kriterien, bestehen neutrale Massstäbe, geben Erfahrungen oder eine Theorie vor, wie die Lösung aussehen müsste, um bestimmte Ziele zu erreichen oder Fehler zu korrigieren? Lässt sich eine (wie immer begründbare) «an sich richtige» Lösung vorstellen, die im Gegensatz steht zu einer anderen? Zu einer anderen Lösung, die im Widerstreit der Interessen und Argumente gemeinsam entwickelt wurde und hinter die sich die meisten Beteiligten und Betroffenen zuletzt stellen? Doch ist dies wirklich ein Gegensatz? Muss die grosse Mehrheit falscher liegen mit ihrer ausdiskutierten Auffassung als – sagen wir – eine Gruppe von Fachleuten mit einer wissenschaftlich hergeleiteten Position? Gibt es «das Richtige» unabhängig vom Kontext, von den Bedingungen der Umsetzung, und dazu gehören primär die Menschen? Sind konsensuale Ergebnisse, Kompromisse bloss schlaumeierische Kuhhändel oder – im Gegenteil – die Essenz der direkten Demokratie in einer offenen Gesellschaft? Was entspricht eher dem Dürrenmatt’schen Credo?

Ich weiss es nicht. Die Gespräche mit Bernhard Pulver haben mich jedoch unsicher gemacht in der Auffassung, er hätte sein Amt gelegentlich nutzen sollen, um mit fliegender Fahne voran und halt auch einmal unter zu gehen. Unsicher gemacht, weil ich in vielen Fragen nicht mehr erkenne, wie eindeutig sich «richtige» Lösungen von «falschen» unterscheiden lassen und wie viel Raum real besteht für transparent gemeinsam erstrittene Kompromisse.

Eines ist mir in den Diskussionen mit Bernhard Pulver klar geworden: das Gespräch, das Zuhören, Zurückfragen und bessere Argumente anzuerkennen, also das Lernen in der Auseinandersetzung mit anderen ersetzt eines nicht – eine klare, eigene, begründete Ausgangsposition. In dieser zeigt sich der Regierungsmann, darin wird er erkennbar und widerlegbar, damit legt er die Basis für das darauffolgende Gespräch. So verstanden braucht es beides: Den Mut, zuerst einen Vorschlag zu machen, und die Grösse, diesen ehrlich zur Diskussion zu stellen – und je nachdem zu ändern.