Non-profit heisst nicht Non-management

von Bruno Müller 28. Oktober 2017

Die VBG, die Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit, hat zu ihrem 50jährigen Bestehen eine Fachtagung durchgeführt. Im Einführungsreferat schaute VBG-Präsident Bruno Müller selbstkritisch zurück. Hier ist seine Rede.

«Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Kooperationspartnerinnen und -partner,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ich möchte Ihnen in meinem einführenden Referat einen Überblick über die Entwicklung der VBG geben.

Die treibenden Kräfte, die hinter der Gründung der ersten Quartierzentren standen, waren Architektinnen und Architekten, weitsichtige Baugenossenschaften, initiative, engagierte Quartierbewohnende, die damalige Fürsorgedirektion sowie die evangelisch-reformierten Kirchgemeinden. Im Mittelpunkt dieses Engagements standen das Interesse an einer sinnvollen Freizeitgestaltung der neuen Bewohner und Bewohnerinnen, Angebote für Kinder und Jugendliche sowie die Einsicht, dass in den wachsenden neuen Wohngebieten der soziale Zusammenhalt durch ein lebendiges Quartierleben wichtig wurden. Quartierzentren und Treffs waren eine Antwort auf den massiven Ausbau des Wohnungsangebotes und der sinkenden Arbeitszeit der werktätigen Bevölkerung in der Hochkonjunktur.

Gemeinsam waren allen Projekten folgende Leitideen: Vereinsdemokratie statt staatlicher Bürokratie und Kontrolle, die Betriebe sollten nicht hierarchisch, sondern basisdemokratisch geführt werden. Die Arbeit der Professionellen, die vor allem zur Betreuung der grösseren Zentren notwendig war, sollte sich am Prinzip ‘Hilfe zur Selbsthilfe‘ orientieren.

Gründung und Pionierphase der VBG

Auf Wunsch der Fürsorgedirektion baute Hansjörg Uehlinger – die wichtigste Persönlichkeit der Gründergeneration – 1967, eben vor 50 Jahren, den Dachverband auf und wurde erster Zentralsekretär. Die Stadt – als wichtigste Subventionsgeberin – wünschte für den Aufbau der Gemeinwesenarbeit einen zentralen Ansprechpartner.

Wir wissen es: Die Pionierphase war die Zeit des Aufbruchs und Aufbaus. Neue Ideen, eine gemeinsame Mission setzten Energie und Begeisterung frei – vieles wurde möglich. Die VBG war ein Feld für Tatkräftige. Dem entsprach die Organisationskultur: Alle bestimmen alles, wenig Verbote und wenig Regeln. So entstand bald eine gewisse Unübersichtlichkeit, und das ermöglichte Eigenmächtigkeiten, der Charme der Pionierphase hatte viele Facetten…

Die einzelnen Phasen können zeitlich nicht präzis begrenzt werden, der Übergang von der Pionierzeit verlief fliessend. Die Gründung neuer Quartierzentren fand erst in den 1990er Jahren ihren Abschluss. Damals gab es acht Quartierzentren mit über vierzig Angestellten samt Trägervereinen, dazu etwa zwanzig Quartiertreffs ohne Angestellte. Die jährliche städtische Subvention wuchs über die Dreimillionengrenze pro Jahr!

Die Gründe für diese Entwicklung lagen im wachsenden Bedarf der Gesellschaft. Die VBG wandelte sich von einer ‘Einrichtung für sinnvolle Freizeitgestaltung’ zu einem Teil der ‘gesellschaftlichen Reparaturequipe’, die zielgruppenorientierte Aufträge übernahm: für die sich verändernde Migrationsbevölkerung, für Betagte, für sozial Schwache und für Arbeitslose. Die VBG wurde zum Dachverband für ein breites zivilgesellschaftliches Engagement.

Die Zusammenarbeit mit der wichtigsten Subventionsgeberin wurde anspruchsvoller. Vertreterinnen der Stadt hatten aus verständlichen Gründen Einsitz in den Vorstand des Dachverbands genommen. Mit dem Wachstum der Subventionssumme verstärkte man die Aufsicht über korrekte Verwendung der Steuergelder; mittels Abschluss von Leistungsverträgen – ab Mitte der 90er Jahre – versuchte die Stadt die Zusammenarbeit verbindlicher und überprüfbarer zu gestalten. Die VBG schuf ein umfassendes Regelwerk, das einen Bundesordner füllte. Aber der Schritt zur professionell funktionierenden Organisation war damit noch nicht vollzogen. Papier genügt eben nicht.

Wachsende Krise und gescheiterte Fusion

Der gross gewordene Dachverband wies in verschiedener Hinsicht immer deutlichere Steuerungsdefizite auf. Eine verbindliche, fachliche und personelle Führung fehlte. Dies entsprach der Kultur des ‘Alle entscheiden alles’, der überstrapazierten basisdemokratischen Philosophie der Gründerzeit. Die Regeln des Führungshandbuchs griffen nicht, weil der Wille zu deren konsequenter Umsetzung fehlte. Das führte insbesondere bei der Zuteilung der finanziellen und personellen Ressourcen immer wieder zu Ausnahmen und Speziallösungen – und diese wiederholt zu Spannungen und Konflikten.

Das Rechnungswesen der VBG gestaltete sich immer anspruchsvoller und erwies sich für die verantwortlichen Vereinsorgane als immer undurchschaubarer. So war es dem Vorstand nicht immer möglich, seine Entscheide im Licht der tatsächlichen finanziellen Lage zu treffen. Ich habe diese Phase in meinen ersten Jahren als Präsident als finanziellen Blindflug erlebt.

In diesem Kontext stiess auch unsere Vereinsdemokratie an ihre Grenzen – Freiwillige und Ehrenamtliche zogen sich teilweise frustriert zurück. Die Erwartungen zwischen Dachverband und Trägervereinen wurden immer wieder enttäuscht. Die VBG wurde in den Augen vieler zum Sündenbock für alles, was nicht richtig funktionierte. Das interne Klima verschlechterte sich. Präsidien, die versucht hatten, den gordischen Knoten zu durchhauen, wurden von verschiedenen Seiten ausgebremst und verliessen die VBG enttäuscht und verärgert.

Die mit dem Leistungsvertrag angestrebte professionelle Kooperation zwischen der Stadt und der VBG entwickelte sich leider nicht zum erhofften partnerschaftlichen Miteinander. Seitens der VBG beklagte man sich über sinnlose Bürokratie – etwa Kennziffern ohne Ende. Und die Stadt beklagte Intransparenz und falsche Zahlen. Das gegenseitige Vertrauen litt immer mehr und das Image nach aussen verschlechterte sich.

Den vom Leistungsvertragspartner initiierten Organisationsentwicklungsprozess, um die VBG mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit zu einem gemeinsamen Fachverband zu fusionieren, verstehe ich rückblickend auch als Versuch zur Krisenbewältigung – man hatte genug! Der Prozess scheiterte aber schlussendlich am Widerstand der VBG. Für uns war das damals ein Befreiungsschlag, aber unsere internen Ursachen der Krise waren natürlich damit nicht beseitigt.

Interne Finanzprobleme und Subventionskürzungen

Verschiedene interne und externe Begebenheiten erzwangen beziehungsweise ermöglichten schliesslich einen Ausbruch aus den überdehnten Strukturen und der prekären finanziellen Lage:

Ende 2010 stellte sich heraus, dass die VBG nicht mehr in der Lage war, kurzfristige Verbindlichkeiten von über 300’000 Fr. zu begleichen. Ein einschneidendes Sanierungsprogramm war damit unvermeidlich: Es wurde vom Präsidium mit dem Büro vorbereitet und vom Vorstand und den Trägervereinspräsidien mit Bedauern, aber mit grosser Mehrheit beschlossen. Es ging im Wesentlichen um die Aufgabe von drei Standorten, die Übernahme der Nebenkosten durch die Trägervereine sowie um eine konsequente Liquiditäts- und Kostenkontrolle. Unser Leistungsvertragspartner, die Stadt, akzeptierte den vorübergehenden Leistungsabbau der VBG ohne Kürzung der jährlichen Subvention. Eine sehr grosszügige und weitsichtige Haltung, die nach dem bitteren Streit um die Fusion grossen Respekt verdient. Danke an Jürg Haeberli, den damaligen Leiter des Jugendamts, und danke an Frau Gemeinderätin Edith Olibet.

Gegen Ende 2012 beschloss der Grosse Rat im Rahmen umfangreicher Sparmassnahmen, die Beiträge für die GWA aus dem kantonalen Lastenausgleich zu streichen. Der Stadt ging so etwa die Hälfte ihrer Subvention an die VBG verloren. Sie erklärte, der Dachverband hätte ab Januar 2014 diese massive Kürzung selber zu tragen.

Eine Task-Force (bestehend aus Präsidium, Vorstandsmitgliedern und Mitarbeitenden) entwickelte verschiedene Abbau-Szenarien und zeigte dem Stadtrat auf, welche Folgen diese für die VBG beziehungsweise ihre einzelnen Stadtorte hätte. An einer recht dramatischen Sitzung im April 2014 entschied sich der Stadtrat, auf harte Einschnitte zu verzichten und beschloss die mildeste Sparvariante. Die VBG musste aber mit dem Gäbelbach- und dem Länggasstreff dennoch zwei weitere Zentren aufgeben und Kürzungen im administrativen Bereich hinnehmen.

Der fachliche und finanzielle Turn-around gelingt

Das Gute im Schlechten war, dass der gemeinsame erfolgreiche Kampf der VBG Präsidium, Vorstand und Mitarbeitende einander wieder näherbrachte.

Nach Umsetzung aller Einschnitte umfasste die VBG nun noch vier Quartierzentren (Tscharni samt Freizeitwerkstatt, Wylerhuus, Villa Stucki und Untermatt), das Quartierbüro Holligen sowie 17 Quartiertreffs. Die VBG war gezwungenermassen schlanker und homogener geworden, die Aufgaben der Professionellen konzentrierten sich nun auf die Quartierarbeit sowie die Führung der vier Zentren.

Verschiedene Kündigungen erzwangen Anfang 2013 eine personelle Neubesetzung der Geschäftsstelle. Bestehend aus dem Geschäftsleiter, dem Präsidium und dem Kassier stand ab 2013 ein erneuertes Führungsteam an der Spitze der VBG, das sich über die Neuausrichtung des Dachverbandes einig war.

Ein personell verkleinerter und verjüngter Vorstand entwickelte sich schnell zu einem gut funktionierenden Gremium, das diesen Kurs mittrug. Der fachliche und finanzielle Turn-around war das Ergebnis guter Zusammenarbeit auf allen Ebenen des Dachverbandes – und keine Einzelleistung!

Der glückliche Sisyphus

Einige persönliche Einsichten zum Schluss: Non-profit heisst nicht non-management. Ohne klare Aufgabenteilung, ohne funktionierende Organisation und ohne kooperative Führung geht es nicht. Alle können nicht alles machen! Die Geschäftsleitung, das Präsidium und die Mitarbeitenden tragen unsere gewandelte Organisationskultur mit und sind bereit, die neuen fachlichen Grundlagen umzusetzen.

Die VBG ist in den letzten Jahren als Organisation kleiner und flexibler geworden. Hätten wir vor acht Jahren mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit fusioniert, wäre die Entwicklung in eine andere Richtung gegangen. Wir wollten aber eine gewisse Selbstständigkeit bewahren und ich glaube rückblickend, es war richtig so. Aber es ist uns klar: Wenn wir etwas bewirken wollen, sind wir auf Kooperationspartner angewiesen: auf die offene Kinder- und Jugendarbeit, die kirchliche Sozialarbeit, die Quartierkommissionen, aber auch auf die Quartierschulen und verschiedene städtische Dienststellen, allen voran das Jugendamt. Herzlichen Dank an sie alle für die feine Zusammenarbeit.

Ich komme zum Schluss: Die Herausforderungen der Gemeinwesenarbeit sind beachtlich, und die vorhandenen Ressourcen sind klein. Wir müssen akzeptieren, dass wir mit unserem umfassenden Auftrag immer wieder gefordert sind. Aber wir können Prioritäten setzen und das, was wir leisten können, an die Hand nehmen, statt uns von dem, was man alles auch noch tun müsste, irreführen zu lassen. Prioritäten setzen bedeutet Verzicht und Konzentration auf das Machbare.

Wir haben gesehen, das gelingt uns als VBG mal besser, mal schlechter: Wir gehen voran, straucheln, stehen auf und gehen wieder weiter. Dazu fällt mir der berühmte Satz von Camus ein: ‘Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen. Denn dieser Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.’

Ich danke Ihnen.»