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von Regula Rytz 23. September 2015

«Der Wahlkampf fühlt sich auch in der heissen Phase nicht wie ein Wettbewerb der Ideen an, sondern wie eine Castingshow. Dagegen haben die Grünen von Anfang an auf einen inhaltlichen Wahlkampf gesetzt.»

Bei den nationalen Wahlen steht sehr viel auf dem Spiel. Wenn es am 18. Oktober tatsächlich zum angedrohten Rechtsrutsch kommt, dann ist die Energiewende gestorben, dann werden das Rentenalter und das Militärbudget erhöht, dann werden neue Steuergeschenke an Grosskonzerne verteilt, dann riegelt sich die Schweiz mit Stacheldraht gegen Flüchtlinge ab. So steht es in den Wahlprogrammen der bürgerlichen Parteien. Doch genau diese Wahlprogramme bleiben in den Schubladen liegen. Der Wahlkampf fühlt sich auch in der heissen Phase nicht wie ein Wettbewerb der Ideen an, sondern wie eine Castingshow.

Die Tyrannei der Intimität

Politologen erküren die glamourösesten, effizientesten, mächtigsten und stimmfaulsten Ratsmitglieder. Parteien besingen Hunde und verbreiten Kochrezepte. Viele Medien (nicht alle!) erfinden lustige Ratespiele zur Unterhaltung des Publikums und wundern sich dann selber darüber, dass «Sauglattismus» die Szene beherrscht. Diese Banalisierung und auch Personifizierung der Politik ist nicht neu. Der Soziologe Richard Sennett hat sie bereits in den 1970er Jahren als «Tyrannei der Intimität» beschrieben, welche die Auseinandersetzung über die Macht im Staat verschleiert. «Eine Person, die sich um ein Amt bewirbt, nennt man ‘glaubwürdig’ oder ‘legitim’, man sieht also darauf, was für ein Mensch er ist, statt darauf, wie er handelt und welches Programm er vertritt», sagt Sennett. So könne ein Staatschef bei einer einfachen Arbeiterfamilie vor laufender Kamera fröhlich eine Suppe verspeisen und zwei Stunden später ihre Renten kürzen – im öffentlichen Gedächtnis bleibe das Mittagessen hängen.

Die trügerische Vermessung der Welt

Der «Zerfall des öffentlichen Lebens», den Sennett in den USA der 1970er Jahren diagnostizierte, hat sich mit Social Media potenziert. Das Internet bietet allerdings auch Chancen für einen selbstbestimmten Faktencheck. Noch nie hat sich so einfach recherchieren lassen, was Parteien und Politiker/innen im Parlament oder bei Abstimmungen WIRKLICH tun. Und mit Online-Wahlhilfen lassen sich zumindest ihre Wahlversprechen messen. So wissen wir heute, dass sich die Kandidat/innen der FDP (91,1 Prozent) und der Grünliberalen (89,1 Prozent) fast geschlossen für die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre aussprechen. Oder dass FDP-Chef Müller öffentliche Forschungsgelder eher nicht auf ökonomischen Nutzen ausrichten möchte, GLP-Chef Bäumle dagegen schon. Ob die Tausenden von Kandidierenden nach einer allfälligen Wahl dann auch wirklich tun, was sie angekreuzt haben, ist alles andere als sicher. So haben 55 Nationalrät/innen aus FDP, CVP und BDP ihr Wahlversprechen gebrochen, dass das Land bis 2034 vollständig aus der Atomenergie aussteigen solle. Anstatt nach der Katastrophe von Fukushima die Energiewende endlich durchzusetzen, wurde sie fallengelassen wie eine heisse Kartoffel. Nur die grüne Ausstiegs-Initiative kann das im nächsten Jahr noch ändern.

Machen Sie sich ihr eigenes Bild!

Wer wissen will, was er wählt, kommt deshalb nicht darum herum, sich ein eigenes Bild zu machen und auch das Kleingedruckte zu lesen. Die Listenverbindungen zum Beispiel: Sie führen dazu, dass GLP-Wähler/innen in einigen Kantonen auch der EDU (fundamentalistisch-antiliberal) oder der Ecopop (Zuwanderungsstopp und Bruch mit Europa) zum Erfolg verhelfen können. Oder das Wahlprogramm: Dort stellt man bei der Durchsicht fest, dass die Umweltpolitik z.B. bei der SP eher eine Nebenrolle spielt und die CVP 3000 zusätzliche Polizisten anstellen will. Interessant ist auch immer wieder ein Blick auf die Abstimmungsparolen der Parteien: Hier wird z.B. sichtbar, dass die GLP die Zweitwohnungsinitiative (federführend) bekämpfte, sich aber nicht gegen die Abschaffung des Botschaftsasyls wehrte. Geht man in die Tiefe, dann findet man quer durch alle Parteien viele weiteren Trouvaillen.

Bleibt die berechtigte Frage, ob es denn die Grünen, also meine Partei, anders und besser machen. Sicher ist: Die Grünen haben von Anfang an auf einen inhaltlichen Wahlkampf gesetzt. Selbst die nicht gerade grünenfreundliche NZZ anerkennt, dass wir der Versuchung der Simplifizierung widerstehen und neben unseren Kernkompetenzen in der Umweltpolitik auch mit sperrigen Themen wie dem Schutz der Grundrechte, dem Recht auf Asyl, der Ablehnung von konzerngesteuerten Freihandelsabkommen, der Verhinderung von militärischen Auslandeinsätzen, der Reduktion der globalen Rohstoff- und Ressourcenverschwendung oder der Einführung eines Eltern- und Vaterschaftsurlaubs unterwegs sind. Ob man mit diesem Gesamtpaket Wahlen gewinnen kann, wird sich am 18. Oktober weisen. Die Wähler/innen haben es heute in der Hand, einen Rechtsrutsch zu verhindern und mit den Grünen die Partei der Umwelt, der Grundrechte, des sozialen Ausgleichs und der globalen Verantwortung zu stärken.