Von BAZORE lernen

von Willi Egloff 21. September 2015

«Es ist nicht unvermeidliches Schicksal, wenn bei der Bildung, bei der Sozialhilfe gespart wird und wenn die Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder die staatlichen Integrationsleistungen gekürzt werden. Es ist vielmehr bewusste, auf Ausgrenzung zielende Politik.»

Im Quartier, in welchem ich seit fünfundzwanzig Jahren wohne, hat eine Gruppe von Frauen und Männern das Dienstleistungs-Tauschsystem BAZORE erfunden: Wer eine Dienstleistung wie Kinder hüten, Aufgabenhilfe, Auto reparieren, Gartenarbeiten, Dolmetschen, Kleider nähen, Kochen, Putzen und vieles anderes mehr erbringen will, kann über BAZORE Personen finden, die diese Dienstleistungen benötigen, und umgekehrt. Das System funktioniert seit nunmehr neun Jahren und wird immer grösser und vielfältiger.

Die Tauschwährung von BAZORE ist Zeit. Wer eine Stunde für jemand anderen gearbeitet hat, kann damit eine Stunde fremder Dienstleistung erwerben. Es gibt nicht wertvollere und weniger wertvolle Arbeit. Eine Stunde Rechtsberatung ist gleich viel wert wie eine Stunde Altenpflege, eine Stunde Putzen gleich viel wie eine Stunde Übersetzen.

Gelebte Solidarität

Alternative Wirtschaft? Sozialromantik? Für mich ist das vor allem eines: gelebte Solidarität. Eine Gemeinschaft, an welcher sich jede und jeder beteiligen kann, weil eben jede Person Fähigkeiten hat, welche sie einbringen kann. Niemand ist nutzlos und niemand ist ausgeschlossen. Es wird niemand gezwungen mitzutun. Allerdings: Wer Dienstleistungen beziehen will, muss sich selbst aktiv an der Gemeinschaft beteiligen.

Was wir heute in der Politik erleben, ist das genaue Gegenteil: Menschen werden aus dem Wirtschaftsleben ausgegrenzt, weil sie aus irgendeinem Grund nicht voll leistungsfähig sind, weil sie keine verwertbare Qualifikation haben, weil sie zu jung oder zu alt sind oder sonst wie gerade nicht ins Schema passen. Auch wenn die Zahl der Arbeitslosen in der Schweiz vergleichsweise niedrig ist: 150‘000 Menschen, deren Fähigkeiten völlig brach liegen, weitere 100‘000 Leute in prekären Arbeitsverhältnissen sind eine gesellschaftliche Schande und darüber hinaus eine sinnlose Verschleuderung von Ressourcen.

Menschen werden auch aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, indem ihnen die Beteiligung an der politischen Willensbildung verwehrt wird. 25 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz sind nicht stimmberechtigt, weil sie den falschen Pass haben, weitere 20 Prozent, weil sie unter 18 Jahre alt sind. Dabei sind Kinder und Jugendliche wie auch Ausländerinnen und Ausländer von den politischen Entscheidungen genauso direkt betroffen wie alle andern in der Schweiz lebenden Menschen. Wo bleibt da die Demokratie?

Gegen die Mechanismen des Ausschlusses

Mit meiner beruflichen wie mit meiner politischen Arbeit kämpfe ich gegen diese Mechanismen des Ausschlusses. Nicht aus Altruismus, nicht als Gutmensch und Wohltäter, sondern aus purem Eigeninteresse. Es ist offensichtlich, dass diese menschenfeindliche Politik der Ausgrenzung nicht bei sozialen Randgruppen Halt macht, sondern auf die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zielt: Infrastrukturen wie die Stromversorgung, die Post oder die Telekommunikation werden privatisiert und den Verwertungsinteressen grosser Konzerne untergeordnet. Soziale Dienste, Gesundheitsvorsorge und Alterspflege sind die bevorzugten Angriffsziele bürgerlicher Sparpolitik. Den Medien wird schrittweise der Status als Vermittler eines gesellschaftlich vorhandenen Meinungsspektrums entzogen, und sie werden zu Werkzeugen der Indoktrination umfunktioniert. Das alles betrifft nicht einige wenige, sondern eine grosse Mehrheit von uns.

Was in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen als öffentliche Güter erstritten wurde, die allen Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft zugutekommen sollten, soll wieder dem Verwertungs­interesse einer kleinen, aber mächtigen Minderheit unterworfen werden. Damit würden wir dann zu rechtlosen und ohnmächtigen Nutzerinnen und Nutzern einer von wenigen Konzernen beherrschten und an deren Interessen ausgerichteten Infrastruktur. Im Bereich des Internets ist das bereits Realität. Kein Parlament, keine Regierung entscheidet darüber, wie das Internet geregelt wird, sondern eine Handvoll privater Firmen.

Solidarität neu lernen

Ich bin überzeugt, dass wir diese Entwicklung verhindern müssen und auch verhindern können. Es gibt kein Naturgesetz, wonach Spitäler und Altersheime privatisiert werden müssten. Es gibt keine objektiven Gründe, weshalb die Wasserversorgung, die Bahn oder das Fernsehen entstaatlicht werden müssten. Es ist nicht unvermeidliches Schicksal, wenn bei der Bildung, bei der Sozialhilfe gespart wird und wenn die Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder die staatlichen Integrationsleistungen gekürzt werden. Es ist vielmehr bewusste, auf Ausgrenzung zielende Politik.

Diese Politik zu verändern, ist die aktuelle Aufgabe, vor der wir stehen. Als meinen persönlichen Beitrag dazu kandidiere ich für den Nationalrat auf der Liste der Partei der Arbeit und der Kommunistischen Jugend, im Rahmen einer grossen links-grünen Listenverbindung.

Mir ist klar, dass nicht eine einzelne Partei oder Gruppierung diese gesellschaftliche Neuausrichtung bewirken kann. Dazu ist vielmehr Solidarität über grosse Teile der Bevölkerung hinweg erforderlich. Solche Solidarität ist lernbar, sie ist realistisch, und sie macht alle Beteiligten stärker. Sie wird auch von vielen Menschen hier und jetzt in ihrem Alltag schon praktiziert. Das lehren uns so kleine und feine Projekte wie BAZORE.