Ausbildung als Chance zum Teilhaben

von Christoph Reichenau 28. November 2014

Es soll das Buch zum Jahr der Berufsbildung sein. Doch Rudolf Strahms «Die Akademisierungsfalle» ist mehr: eine Streitschrift für die Reform des Bildungswesens. Eines kommt freilich zu kurz: das Lernen aus reiner Freude.

Man kennt ihn als passionierten Vertreter der dualen Berufsbildung. Fast obsessiv schildert er in Kolumnen, Referaten, Interviews deren Vorzüge. In seinem neuen Buch vertieft Rudolf Strahm sein Lob – und weitet den Blick aus auf die Fachhochschulen und Universitäten. Und nicht nur das: Er macht auch Vorschläge für Reformen in der obligatorischen Schulzeit, auf der Sekundarstufe II und in den Fachhochschulen und Universitäten. Dies alles unter dem Aspekt, möglichst vielen möglichst gute Chancen zu geben, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen, sie in die Gesellschaft zu integrieren und die wirtschaftliche Gesamtleistung zu steigern. 95 Prozent aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollen entweder eine gymnasiale Maturität erwerben oder eine berufliche Grundbildung (mit Attest oder mit Eidgenössischem Fähigkeitsausweis und allenfalls Berufsmaturität) absolvieren. Auf diesen beiden Wegen bilden sie sich so, dass sie die Falle der Arbeitslosigkeit umgehen. Doch nicht genug damit: Auch die restlichen 5 Prozent sollen mit zahlreichen Massnahmen in jeder Phase ihres Lebens angesprochen, ermuntert, einbezogen werden.

Der Masterplan

Strahms Masterplan ist die Übersicht des schweizerischen Bildungssystems von der Vorschule bis zur Tertiärstufe (siehe Grafik oben).

Sein Mantra lautet: Kein Abschluss ohne Anschluss. Sein Credo bilden im System die vielen Pfeile; sie zeigen, dass nach der 9. Klasse praktisch jeder Bildungsweg offen steht: Über Brückenangebote zur Lehre, von da über die Berufsmaturität an die Fachhochschule oder mit einer Zusatzqualifikation an die Universität. Vom Gymnasium an die Uni oder mit Zusatzqualifikation an die Höhere Fachschule bzw. eine Fachhochschule.

Dieses System ermöglicht denen, die ernsthaft wollen, fast alles. Aber das wunderbar durchlässige Ding, ist zu wenig bekannt. Vor allem haben viele eine ungenügende Vorstellung von der Höheren Berufsbildung (Tertiärstufe B genannt). Manche können die Bedeutung der entsprechenden Abschlüsse nicht einschätzen. Sie verkennen, dass diese teilweise dem Bachelor, ja sogar dem Master einer Fachhochschule oder einer Uni (gesamthaft Tertiärstufe A genannt) gleichzusetzen sind. Zwar hilft der Nationale Qualifikationsrahmen beim Vergleich. Doch wirksamer wären ähnliche Titel (zum Beispiel «Professional Bachelor» oder «Professional Master»). Der Kampf dafür ist im Gang.

Zwei Bildungsklassen

Eine Besprechung kann der Ideenfülle des Buchs nicht gerecht werden. Dennoch lässt sich Strahms Botschaft so zusammenfassen: Während die Absolventen der Berufsbildung zu wissen glauben, wie der Weg über das Gymnasium an die Uni aussieht und welchen Gewinn er bringt, foutieren sich «die Akademiker» um die Organisation und die Bedeutung der Berufsbildung. Strahm konstatiert eine auf Dünkel und Borniertheit einerseits, auf Bewunderung andererseits fundierte Zwei-Klassen-Gesellschaft in Bildungsfragen. Der Untertitel des Buchs ist Programm: «Warum nicht alle an die Uni müssen und warum die Berufslehre top ist».

Strahm unterscheidet zwei Eliten: Hier die «ländliche», im Berufsbildungswesen gross geworden. Dort die «urbane Elite», die aufs Akademische fixiert sei. Und sonderbar: Während er nicht müde wird, die Um- und Aufstiegsmöglichkeiten nach absolvierter Berufslehre zu beschreiben (Motto «Kein Abschluss ohne Anschluss»), widmet er dem gegenläufigen Umstieg (von der gymnasialen Matur hin in die Höhere Berufsbildung) nur wenige Sätze. Das ist schade, denn Strahm geht davon aus, dass das Gymnasium der Berufslehre viele geeignete Lernende wegnimmt, ohne ihnen bessere Berufschancen zu bieten. Und er betont zu Recht die einzigartige Durchlässigkeit zwischen beiden Richtungen, die immer neu Richtungswechsel möglich macht.

Und Bildung?

Fügt man die Fülle interessanter, teilweise aber noch unausgereifter bildungspolitischer Ideen zusammen, ergibt sich ein veritabler Plan (siehe Zweittext). Man merkt: Bildungspolitik ist für Strahm undenkbar ohne Wirtschafts- und Sozialpolitik. Stets geht es um die Integration im Arbeitsmarkt. Sie ist der Schlüssel für alle, die wirtschaftliche Performance zu steigern und an der Gesellschaft teilzuhaben.

Dabei kommt für mich ein wichtiger Aspekt zu kurz: Bildung. Bildung bedeutet Lernen mit der Frage: Woher komme ich, wer bin ich, woran orientieren wir uns? Lernen ohne direkten Zweck und unmittelbaren praktischen Nutzen. Der spanische Philosoph Fernando Savater (geboren 1948) sagte dazu in einem Interview: «Die europaweite Tendenz geht zu rein funktionsorientierten Bildungsprogrammen. Anstatt Bürger und Menschen zu formen, schafft man Angestellte, Leute, die mehr oder weniger tüchtig arbeiten. Weiterführende Perspektiven gibt es nicht mehr. Natürlich ist es wichtig, sie zu mündigen Bürgern zu erziehen. Martha Nussbaum nannte das ‚cultivating humanity’. Das geht verloren.» Und: «In der Jugend die eigene Bildung zu vernachlässigen, das halte ich für eine grosse Unbesonnenheit. Dann weiss man im Alter nichts mit sich anzufangen.» (NZZ, 14. April 2014, Seite 37)

Dieser Gedanke einer allgemeinen Bildung fehlt bei Rudolf Strahm weitgehend. Für Uni-Studierende aller Fachrichtungen postuliert er zwar die Pflicht, ein oder zwei geisteswissenschaftliche Wahlfächer zu belegen. Aber in der Berufslehre hält er bestenfalls eine bis zwei Wochenstunden mehr Allgemeinbildung für nötig; und in der Höheren Berufsbildung fehlt jeder Ansatz dazu. Man fragt sich, wie zum Beispiel ein Chemie- und Pharmatechnologe vorgehen soll, der sich für Philosophie und Ökonomie interessiert? Die Berufsmaturität ist gerade diesbezüglich schmalbrüstig.

Fragen

Strahms anregendes Buch führt zu Fragen:

• Muss die Berufsbildung derart «gepusht» werden, weil ihr an sich der Nachwuchs fehlt? Oder fehlen vor allem die guten Lernenden, die es auch ans Gymnasium schaffen und dieses einer Berufslehre (mit Berufsmaturität) vorziehen? Gäbe es genug Lehr- und später Arbeitsstellen für sie?

• Ist der Fächermix am Gymnasium wirklich zu sprachlastig? Würden tatsächlich mehr junge Männer den Zugang dorthin schaffen, wenn Sprachen weniger zählten? Ist die Nawimat (eine naturwissenschaftlich-mathematische Matur) für junge Männer ein Ausweg? Und tut man genug, damit vermehrt Frauen im Gymnasium und an den Hochschulen auch MINT-Fächer wählen (also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik)?

• Gilt Strahms Credo «Praktische Intelligenz heisst, Fachwissen auch anwenden zu können» nicht gleichermassen für die berufliche wie die akademische Ausbildung?

• Ist die Befürchtung einer Marginalisierung der Berufsbildung real oder auch ein willkommener Hebel zum Umbau der gesamten Sekundarstufe II und der Tertiärbildung?

• Weshalb wissen die Verantwortlichen der KMU (99,6 Prozent aller Unternehmen mit 66,6 Prozent der Arbeitnehmenden, die 88 Prozent der Lehrlinge ausbilden) und auch grösserer Firmen so wenig Bescheid über die Abschlüsse der beruflichen Weiterbildung sowie der Höheren Berufsbildung, wenn diese doch so massgeschneidert den gerade aktuellen Praxisbedürfnissen entsprechen?

Fazit

Rudolf Strahm legt ein anregendes, angriffiges Buch vor. Lektüre empfohlen. Es beleuchtet das Bildungssystem der Schweiz als Ganzes. Dabei stehen die Berufsbildung und die Höhere Berufsbildung in hellerem Licht als das Gymnasium und die Hochschulen. Sehr verdienstvoll ist Strahms Versuch, die Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Zusammenhang zu verstehen und daraus Lösungen für die Gesellschaft und für die Steigerung der wirtschaftlichen Gesamtleistung abzuleiten.

Eine Schwachstelle hätte sich leicht vermeiden lassen: Die redundanten Seitenhiebe gegen eine sogenannte akademische Elite, die über das eigene Gärtlein kaum hinausschauen soll. «Warum nicht alle an die Uni müssen und warum die Berufslehre top ist» – der Untertitel trifft zu. Der Haupttitel «Die Akademisierungsfalle» ist unnötig provokativ. Die Warnung wird im Text zwar oft wiederholt, aber ebenso wohltuend auch nuanciert. Dennoch bleibt der Eindruck einer gewissen Unausgewogenheit: Hier der allzu fraglos gesuchte Weg zur Uni, da der verkannte Königsweg zur Berufsbildung.

Eine zweite Schwachstelle erscheint im Wortsinn frag-würdig: Wo bleibt bei so viel praxisbezogener Ausbildung die primär im eigenen Erkenntnisinteresse wurzelnde (Allgemein-) Bildung? Aber dieser Frage richtet sich nicht nur an den Autor, sondern genauso an die Fachhochschulen und Universitäten.

Strahms Buch ist es wert, eine bildungspolitische Diskussion auszulösen. Es ist zu einfach, es aus universitärer Sicht als «Geschwafel» abzutun. Lohnender wäre, darauf einzutreten und die Ideen weiterzuentwickeln und zu ergänzen.