Ein Pfingstspaziergang zum Zentrum Paul Klee und darum herum nebst abschweifenden Gedanken

von Christoph Reichenau 26. Mai 2021

Unterwegs auf der Museumsstrasse im Zentrum Paul Klee und hinein in die Ausstellung über die Welt Adolf Wölflis.

Tritt man am Restaurant Schöngrün vorbei von der nördlichen Schmalseite ins Gebäude, kommen einem rechts am Boden farbige Holztütschi entgegen. Sie liegen dort, als ob ein Kind vergessen hätte, nach dem Spielen den Holzbaukasten wieder einzuräumen. Folgt man der Spur der Tütschi ins Innere, bemerkt man, dass sie sich fortziehen auf einem Metallsims über dem darunter liegenden Atelier des Kindermuseums Creaviva und dort immer weiter auf der ganzen Länge des stattlichen Raums. Wer hat sie hingelegt? Mit einer Leiter, auf einer Hebebühne? Wer hatte die Idee, die kleinen Kunstwerke von Roland Werro, die etwa auch in der Kapelle und im Schloss Münchenwiler farbige Akzente setzen, halb zu präsentieren, halb zu verstecken – um sie doch vorwitzig über die Museumsgrenze hinaus in den Vorraum sich ausbreiten zu lassen, wo bei Regen auch Schirme abgestellt werden? Und wer liess zu, dass die Tütschi etwas ungeordnet dort liegen, so gar nicht museal-bündig? Wie immer: Die Kunst kommt einem entgegen, man fühlt sich willkommen. Danke. (Auf Nachfrage: Das Kunstarrangement ist von Pia Heim über das Atelier Rohling ist ZPK gekommen. Rohling ist ein Kunstatelier im PROGR, das 13 Kunstschaffenden mit und ohne Behinderung einen Arbeitsplatz bietet. Es hinterfragt die Grenze zwischen Outsider- und Mainstream-Kunst.)

Die Entdeckung ermutigt, sich weiter umzuschauen. Der Blick geht hinaus zu den Alpen, auf den Gurten, ins Wyssloch ennet der Autobahn. Das Zentrum ist Teil der Landschaft und zieht diese durch die hohen Glaswände hinein. Als 2019 an drei Podiumsgesprächen Fachleute sagen durften, wie sie sich den Erweiterungsbau des Kunstmuseums an der Hodlerstrasse vorstellten, sagte jemand: lichtdurchflutet. Hier ist das Licht, man muss es nur wahrnehmen.

Hier ist auch etwas Weiteres, das man anderswo rühmt: die Museumsstrasse. Wer ins ZPK kommt, muss keine Kunst sehen wollen. Er oder sie kann einfach Kaffee trinken und Kuchen essen, im Shop stöbern, auf den Kunstwerk-Möbeln von Lang/Baumann turnen, auf «normalen» Stühlen sitzen, sich aufhalten am Trockenen. Die Museumsstrasse, eine Idee des Stifterehepaars Müller, ist ein öffentlicher Raum mit Gratiszutritt – so wie der kleine Park um das Museum mit dem Birkenwäldchen, den Bienenstöcken, der Matte und dem Acker öffentlicher Raum ist, der die Parkanlage des angrenzenden Schosshaldenfriedhofs erweitert.

Nun überschreiten wir die Grenze der Museumsstrasse. Der Eintritt in die Ausstellung kostet. Im grossen Untergeschoss des Mittelhügels wird «Riesen=Schöpfung, die Welt von Adolf Wölfli» gezeigt. Sofort wechselt die Atmosphäre ins Museale: Ruhe, gedämpftes Licht aus konservatorischem Grund, eine Fülle von im Halbdunkel schlecht lesbaren Informationstafeln an den Wänden. Die langen Reihen der Vitrinen-Tische haben eine Höhe, die Erwachsene zwingt, sich herunterzubeugen, wenn sie schauen und vor allem lesen wollen. Adolf Wölfli (1864-1930) war ein Gigant der Erfindung von Wörtern, Bildern, Tönen, Geschichten, auch seiner eigenen Geschichte. Über dreissig Jahre entstand in der Waldau seine «Riesen=Schöpfung», ein monumentales Werk von 25‘000 Seiten, in gewaltige Bücher gebunden, Texte durchsetzt mit Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Zeugnissen seiner Sehnsüchte, Lüste, seines Selbstbewusstseins, seiner Einsamkeit. «Es ist, als ob das Bengalisieren und Funkensprühen aus unser’m fast unzähligen, gefüllten Allmachts=Rohr, kein Ende haben sollte», schrieb er über sich und seine Arbeit, präzis und prägnant wie niemand sonst.

Im Mittelpunkt von Wölflis Kunst steht in der Ausstellung die Literatur, das Schriftwerk. Verhältnismässig wenige zeichnerische Werke – herausgelöst aus den Büchern – sind zu entziffern, zu bestaunen mit der Fülle ihrer oft gewächsartigen Wucherung, die stets gebändigt wird. Zum Glück machen zwei grosse bemalte Schränke, Auftragsarbeiten, Wölflis Werk plastisch. Unwillkürlich denkt man an den andern grossen Berner Kunstaussenseiter, Robert Walser, und einer seiner unnachahmlichen Sätze steigt am Pfingsttag auf, federleicht und todtraurig: «Es ist Sonntag, und im Sonntag ist es Morgen, und im Morgen weht der Wind, und im Wind fliegen alle meine Sorgen wie scheue Vögel davon.»

 Der Psychiater Walter Morgenthaler attestierte 1921 Wölfli den Status eines Künstlers. In der grossen Ausstellung 1976 im Kunstmuseum Bern wurde Wölfli, der Aussenseiter, sozusagen offiziell in den Kunstkreis aufgenommen, nicht zuletzt dank der farbenprächtigen, wuchtigen Plakate von Roger Pfund, die in zahlreichen Wohnungen hängen. Das war damals eine Entdeckung. Jetzt erlebt man ein feineres, stilleres, gedämpftes Eintauchen – und geht mit im Wissen, nur einen Bruchteil des präsentierten Werks erfassen zu können, das seinerseits ein Bruchteil des gesamten Werkes ist. Mit Löffeln lässt sich ein Ozean nicht ausschöpfen.

Hundert Jahre nach Morgenthaler ist Wölflis Werk zweifellos Kunst. Die im Kunstmuseum Bern domizilierte Wölfli-Stiftung legt Wert auf die Kunst-Etikette. Warum? Ist Kunst nur oder vorwiegend das, was Fachleute als Kunst betrachten und bezeichnen? Ist Kunst Kunst, weil sie im Museum aufbewahrt, beschrieben, wissenschaftlich aufgearbeitet, ausgestellt wird? Erst dann, nur dann? Ist die Kunst im Museum die höchste Stufe der Kunst – oder ihrer Anerkennung? Was ist mit der vielen weiteren Kunst: In den Ateliers der Künstlerinnen und Künstler, in Galerien, Off-Spaces, in der Stadtgalerie? Ab welchem Grad ihrer Beachtung durch Fachleute wird sie relevant für die Szene, den Markt, uns alle? Das Atelier Rohling, aber auch der kulturpunkt im PROGR loten die Grenze aus und stellen sich der Frage.

Die zweite Ausstellung «Paul Klee, ich will nichts wissen» verschieben wir auf ein nächstes Mal. Auf dem Weg hinaus ein Abstecher in die Räume des Kindermuseums Creaviva, betrieben von einer eigenen Stiftung, örtlich und gedanklich eng verbunden mit dem ZPK. Auch hier leben die Gedanken des Gründerehepaars weiter. Ihnen lag am Herzen, dass alle von jung auf Zugang haben sollen zu Kunst, zu Kunst aller Sparten – visuell, musikalisch, literarisch, tänzerisch. Denn in der Kunst können alle etwas entdecken, das im Alltag überdeckt ist. Jede und jeder findet Eigenes. Und durch künstlerische Tätigkeit, freie Arbeit, können alle ausdrücken, was sie beschäftigt und bewegt. Man sagt dem «Vermittlung» und «Teilhabe». Im Grund geht es einfach darum, allen zuzutrauen, etwas auszudrücken zu haben. Und etwas empfinden oder erkennen zu können in einem Kunstwerk, das vielleicht der Künstlerin oder dem Künstler unbewusst ist.

Vermittlung von Kunst und Teilhabe an Kunst sind – so gesehen – nicht auch wichtig im Museum. Sie sind dessen Zentrum. Die Beschäftigung mit Kunst ist in einer offenen Gesellschaft das Gegenstück zur Freiheit des künstlerischen Schaffens: ein Grundrecht. Es ist nicht Aufgabe des Museums, Kunst zu definieren. Es ist Aufgabe des Museums, uns vorzuführen, was es an Werken gibt, und uns – wenn gewünscht – Verständnishilfen anzubieten. Und uns dann den eigenen Empfindungen zu überlassen oder uns dabei zu begleiten, über diese nachzusinnen oder auszutauschen.

So endet der Pfingstspaziergang im Gärtlein zwischen dem ZPK und der Campagne Schöngrün. Das Restaurant ist noch geschlossen, der Kaffee und die Amaretti sind to go, der Springbrunnen plätschert und im Kopf drehen sich Gedanken. Ohne Museumsbesuch gäbe es sie nicht. Was sind wir ohne Museum (das ahnen wir manchmal)? Und was ist ein Museum ohne uns? Das wollen die Museumsleute in einer Umfrage ermitteln, um mehr als eine Ahnung zu haben.