Wie Glausers Matto am Genfersee regiert

von Peter Moser 12. Juni 2020

Nach seinem Münsinger Psychiatrie-Krimi «Matto regiert» wird Friedrich Glauser 1937 von Oscar Forel, Direktor der Klinik in Prangins eingeladen, auch ihn und seine Institution zu verewigen. Dieses Buch schreibt aber später ein Berner Bauer. Jetzt ist es erschienen.

Im Dezember 1936 veröffentlichte der Jean Christophe Verlag von Emil Oprecht in Zürich den Kriminalroman «Matto regiert» von Friedrich Glauser. Die Handlung spielte in der Heil- und Pflegeanstalt Randlingen. Dass es sich dabei um die bis 1930 «Irrenanstalt» genannte Heil- und Pflegeanstalt in Münsingen handelte, wurde allein anhand von zwei Hauptfiguren klar: Ulrich Borstli und Ernst Laduner. Der im Roman ermordete Borstli trug unverkennbar Züge des damaligen Direktors Ulrich Brauchli. Und die Figur von Laduner war ebenso klar an Max Müller, dem leitenden Arzt, modelliert. Glauser hatte den Text 1936 während seines Aufenthaltes in der psychiatrischen Klinik Waldau als Fortsetzungsroman für den «Öffentlichen Dienst», das Publikationsorgan des VPOD, geschrieben. Von 1919 bis 1935 hatte er aber wiederholt als Patient in Münsingen gelebt, wo Müller zwischen 1927 und 1933 mit ihm eine Psychoanalyse durchführte. Dabei entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Über Brauchli, Müllers Vorgesetzten, der die Patienten primär beruhigen, nicht therapieren wollte, hingegen ärgerte sich Glauser seit seinem ersten Aufenthalt in Münsingen grün und blau. «Das nächste Mal, wenn die Wut mich wieder übermannt», schrieb er schon 1919, «begehe ich vielleicht einen Mord».

Glausers literarischer Mord und die Folgen

Als Müller Ende 1936 vom Inhalt des Romans erfuhr, befürchtete er, dass angenommen werde, er selber «stecke hinter dem Ganzen». Vor allem aber sah er «einen Riesenskandal voraus und fürchtete die Reaktion Brauchlis, die lebensbedrohlich werden konnte», wie er in seinen «Lebenserinnerungen» schrieb. Müller kontaktierte deshalb umgehend den kantonalen Gesundheitsdirektor Henri Mouttet, der ihn noch am Silvestermorgen zu einem Gespräch empfing. Anschliessend las der Regierungsrat den Roman und orientierte seine Kollegen am 2. Januar 1937. Diese hätten über einzelne Passagen «herzhaft» gelacht, berichtete Mouttet am 3. Januar. Und erklärte zugleich: Eine von Müller zur Diskussion gestellte Unterdrückung des Romans komme nicht in Frage, denn ein Presseprozess würde nur Reklame für das Buch machen. Zudem wäre als Kläger wegen Verleumdung oder übler Nachrede nur Brauchli selbst legitimiert – und dieser würde sich wohl kaum dazu entschliessen, denn was im Roman stehe, «sei im Grunde ja alles wahr».

Zur Klärung der Frage, wie Glausers Manuskripte die Anstalts-Zensur der Waldau unbehelligt passieren konnten, leitete die Gesundheitsdirektion zwar eine Disziplinaruntersuchung ein, die aber verlief weitgehend im Sande. Ganz anders in Münsingen: Hier beauftragte Müller die engste Mitarbeiterin von Brauchli, dafür zu sorgen, dass dieser den Roman nicht zu Gesicht bekomme, falls ihm jemand das Buch schicken sollte. Es scheint, dass Brauchlis Post nun rigoroser überwacht wurde als diejenige von Glauser im Jahr zuvor in der Waldau. Jedenfalls erhielt Müller, der zwei Jahre später Brauchlis Nachfolger wurde, nie den Eindruck, dieser habe je etwas von seiner literarischen Ermordung durch Glauser erfahren.

Oscar Forels Einladung nach Prangins

Ganz anders auf die Publikation des Romans reagiert hat Oscar Forel, der Sohn des ehemaligen Direktors der Klinik Burghölzli, Auguste Forel, und Vater des langjährigen PdA-Nationalrates Armand Forel, der als Arzt der Arbeiterschaft und der bäuerlichen Bevölkerung von Nyon und Umgebung in der Nachkriegszeit schweizweit bekannt wurde. Oscar Forel leitete die psychiatrische Privatklinik Les Rives de Prangins bei Nyon. Seine Bewunderung für den Roman «mit dem schmeichelhaften Porträt von Dr. Laduner» liess er Glauser schriftlich zukommen. Zugleich lud er ihn ein, zu ihm nach Prangins zu kommen, falls sich ein Klinikaufenthalt je wieder als nötig erweisen sollte. Allerdings war Forels Offerte mit einer mehr oder weniger verbindlich formulierten Erwartung verknüpft: der Entstehung eines neuen Romans. Forel hoffte offenbar, so für seine Klinik in den literarisch-künstlerischen Milieus von Europa eine ebenso grosse Aufmerksamkeit kreieren zu können wie der «Matto» es für Münsingen in Bern getan hatte. Glauser war gerührt, dass «der Sohn des Unerträglichen, Berühmten und Seligen», wie er Auguste Forel charakterisierte, vom «Matto» so begeistert war. Ende Februar dankte er Oscar Forel für das Angebot, teilte ihm aber gleichzeitig auch mit, dass er ihm nicht versprechen könne, ihn «so zu zeichnen, wie ich meinen Laduner porträtiert habe». Weil ein «Aufenthalt in einer Berner Anstalt» für ihn nach der Publikation des «Matto» aber in der Tat unmöglich geworden sei, sei er dankbar dafür, dass er im Notfall in Prangins aufgenommen würde, obwohl die dortigen Preise für ihn unerschwinglich seien. 

Schon drei Monate später, Ende Mai, schrieb Glauser aus Frankreich an Forel, er sei «überreizt», ob er nun für einige Zeit nach Prangins kommen könne? Forel sagte umgehend zu und schlug ihm vor, nach Beginn der Kur zugleich als Hilfspfleger zu arbeiten, damit er sich unter den zahlenden Gästen nicht unbehaglich fühlen werde. Gleichzeitig teilte er Glauser nun mit, dieser solle in ein «Gentlemen agreement» einwilligen und die Privatklinik Les Rives de Prangins in seine künftigen literarischen Arbeiten nicht einbeziehen. 

Statt Glauser schreibt Baumgartner

Beim Eintritt in die Klinik Mitte Juli konnte Glauser mit Forel nur kurz sprechen, was ihn sehr enttäuschte. Doch die Mitteilung eines Pflegers, dass es hier viel zu tun gebe, stimmte ihn zuversichtlich. Allerdings machte diese Zuversicht rasch einer neuen Ernüchterung Platz. Schon nach zehn Tagen ergriff er «fluchtartig das Panier». Die «Millionärsluft» sei «nichts für den Korporal Glauser» gewesen, die «schaumschlagenden Psychiater» hätten ihn «rebellisch gemacht». Forel selber sei «so der Typus des Herren, der sozialistisch tut und psychotherapeutisch wirken will und dabei ein ziemlich mieser Komödiant» sei, teilte Glauser seinem Freund Josef Halperin, dem Redaktor der linken Wochenzeitung ABC, mit – und fügte an: «Mais ceci entre nous.» 

Einen literarischen Text über das Leben in Prangins hat Glauser nie geschrieben. Dank den Erinnerungen von Werner Baumgartner wissen wir nun aber trotzdem einiges über das Leben in der Klinik am Genfersee aus der Perspektive eines Insiders. Forel hatte den aus der Wegmühle bei Bern stammenden, seit 1925 mit seinen Eltern und fünf Brüdern in Nyon lebenden Baumgartner Ende 1936 zum Leiter des landwirtschaftlichen Gutsbetriebs engagiert. Die von Baumgartners Vater gegenüber Forel geäusserten Bedenken, ob ein 21jähriger nicht zu jung für eine solche Aufgabe sei, die auch die Führung von 15 Angestellten beinhaltete, relativierte Forel mit der Bemerkung, die Jugend sei allenfalls ein Problem, das sich aber jeden Tag von selber ein Stück weit löse. 

Das neue Buch: «Le dernier des six»

Baumgartner thematisiert in seinen kürzlich publizierten Lebenserinnerungen auch die Binnenmigration im 20. Jahrhundert. Ein Thema, dessen Relevanz für die schweizerische Gesellschaft allzu oft in Vergessenheit gerät. Was seine Zeit in Prangins betrifft, berichtet er vor allem über die Verhältnisse auf dem von Forel eingerichteten Landwirtschaftsbetrieb, über die dort arbeitenden Menschen und die Bedeutung der Agrikultur für die Klinik. Wie sein Vater Auguste und später sein Sohn Armand, interessierte sich auch Oscar Forel zeitlebens für Agrarfragen. Am Auf- und Umbau des Gutsbetriebs nahm er regen Anteil. Dass Forel und Baumgartner zuweilen hoch zu Ross auf dem weitläufigen Areal unterwegs waren, wenn sie die Kulturen beobachteten und die Anbauplanung für die Zukunft besprachen, weckte innerhalb der Klinik ebenso Aufmerksamkeit wie das enge Verhältnis, das Baumgartners Freundin und spätere Frau Hedi Jost zu Emma Forel hatte, die nach dem Tod von Auguste bei ihrem Sohn in Prangins lebte.

Einer von Baumgartners damaligen Mitarbeitern, über den er in seinen Erinnerungen auch berichtet, war der spätere Migros-Direktor Pierre Arnold. Der Jüngling wurde Baumgartner anvertraut, weil dessen Mutter nach dem Tod ihres Ehemannes in der Klinik arbeitete. Baumgartner fiel rasch auf, dass Arnold, der ein ebenso inniges Verhältnis zu den Pferden hatte wie er selbst und Oscar Forel, schon als 16jähriger im Stall und auf dem Feld unablässig nach Vereinfachungen der Arbeitsabläufe suchte.

Baumgartner berichtet, dass er sich dafür einsetzte, dass Arnold, dessen Vater in Ballaigues weitgehend erfolglos einen Krämerladen betrieben hatte, nach dem Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule Cernier ein Stipendium erhielt, mit dem er 1943 an der ETH ein Studium der Agronomie beginnen konnte. Ohne ETH-Abschluss hätte Arnold in den 1960er-Jahren weder die Geflügel- und Fleischproduktion noch den Detailhandel derart umpflügen können, wie es ihm als Migros-Direktor ab 1958 gelang. Arnold hat seine, allerdings weit heroischere, Version über die Ermöglichung seines ETH-Studiums schon vor zwei Jahrzehnten publik gemacht («Die Macht des Ohrs», Egg [Textaid], 2000).

Zum Glück hat Oscar Forel 1936 nicht gewusst, wie versiert der von ihm engagierte Werner Baumgartner, Absolvent der landwirtschaftlichen Fachschule Rütti in Zollikofen, mit Pferden, Pflügen und der deutschen und der französischen Sprache umgehen konnte, sonst hätte er vielleicht Friedrich Glauser, der mit Erfolg die Gartenbauschule Oeschberg in Koppigen absolviert hatte, 1937 gar nicht nach Prangins eingeladen.