Mit vielen Wassern gewaschene Texte

von Fredi Lerch 1. Mai 2020

Man muss nicht vom Literaturbetrieb kanonisiert sein, um schreiben zu können: Das beweist der neue Sammelband des Berner Sage und Schreibe-Verlags. Diesmal hatten die Autorinnen und Autoren als inhaltliche Vorgabe einzig das Wort «Wasser».

«Sage und Schreibe»: So heisst der Verlag, der vor genau fünf Jahren im Breitenrainquartier gegründet worden ist. Eines der Projekte, dem sich der Verlag widmet, ist die Pflege des Geschichtenerzählens. 

Dafür sucht die Programmleiterin Tina Uhlmann (siehe Kasten) Autorinnen und Autoren, die nach bestimmten Spielregeln an thematischen Sammelbändchen mitarbeiten. Diese Regeln lauten: Textlänge höchstens 10’000 Zeichen, Textform frei und: Der Beitrag bezieht sich in irgendeiner Weise auf das vorgegebene, inhaltliche Thema. 2017 lautete es «Winter», und daraus geworden ist «Snežanas Lied. Neue Wintergeschichten aus der Schweiz». Eben erschienen ist nun «Wellen kämmen. Neue Wassergeschichten von nah und fern». Die Buchvernissage von Anfang April ist wegen des Corona-Versammlungsverbots ins Wasser gefallen.

In «Wellen kämmen» gibt es Kurzgeschichten aller Art, eine gar in E-Mail-Form; es gibt Gedichte, auch solche von bemerkenswerter orthografischer Eigenwilligkeit; und es gibt Wasserwortschöpfungen in Scrabble-Form mit Leerstellen, die zum Mitspielen anregen. Wasser gibt’s selbstverständlich in jedem der über vierzig Beiträge – aber welche Vielfalt von Zugängen! 

Themen sind Meer, Weiher, Fluss, See oder der «Mürrnbachfall»; Themen sind Zweierkistenprobleme an der Badewanne; die Weltsicht eines Wassertropfens oder eine Heiratsfeier mit einem gestrandeten Wal vor dem Hotelfenster. Thema ist ein schweigender Mann auf einem Touristenschiff im Mekongdelta: Auf zwei Seiten wird sein erschütterndes Schicksal als Indochinaflüchtling skizziert, der schliesslich in den USA gestrandet ist. Thema ist ein Ich-Erzähler, der sich an seinen Lieblingsweiher setzt, um über das Auswandern nachzudenken: Erst als der junge Mann, der sich neben ihn setzt und ihn plaudernd auf andere Gedanken bringt, wieder verschwindet, merkt er, dass er sich mit dem zweiten Goldfisch unterhalten hat, den er zuvor im Weiher vermisste. Oder: Die Kairofahrt einer jungen Frau, die eine Freundin auf Zeit findet und nilaufwärts eine Welt, in der Beschneidung und Männer, die ihre Frauen schlagen, zum Alltag gehört. 

«Wellen kämmen» ist eine abwechslungsreiche Lektüre. Die einzelnen Beiträge sind geschickt zur Anthologie montiert, so dass jederzeit sowohl ihre Eigenständigkeit als auch motivische und erzähltechnische Querbezüge zu benachbarten Texten im Blick sind.

Sicher: Einiges ist weniger geglückt, ab und zu bleibt Sprachspielerisches im Etüdenhaften stecken, es gibt Originalitätlichkeiten, die mehr tätlich als originell sind. Aber: Die neue Wasser-Anthologie des Verlags Sage und schreibe zeigt, dass man nicht vom Literaturbetrieb kanonisiert sein muss, um schreiben zu können (in diesem Land mit hunderttausenden von Bildungsprivilegierten könnten tausende aus dem Stand einen passablen literarischen Text schreiben – und viel mehr können die meisten der tausend Mitglieder des AutorInnen-Berufsverbands auch nicht). Die Wasser-Anthologie zeigt auch: Schreiben könnte ein kollektives Projekt sein im Wissen, dass zwar der eigene Text gelingen kann, die Summe verschiedener Zugänge zu Sprache und Stoff aber immer mehr und anderes ergibt als der kleingewerblerisch motivierte Anspruch aufs eigene Buch.

Für alle, die beim Lesen ab und zu ins Schmunzeln und ab und zu ins Nachdenken kommen möchten, ist «Wellen kämmen» eine Lesereise wert.