Ein Nachruf auf Markus Raetz, aus Bern

von Nina Zimmer 28. April 2020

Mit Markus Raetz hat die Schweiz einen ihrer grossen Künstler verloren. Wir in Bern haben zugleich auch einen der wichtigsten Berner Künstler verloren, den die Stadt je hervorgebracht hat.

Raetz hinterlässt eine grosse Lücke, er hat die Berner Kunstszene auf vielfältige Weise mit der Welt verbunden – und er hat tiefe Spuren hinterlassen: über viele Jahre hinweg war er als Person, aber auch seine Kunst in der Stadt immer wieder präsent und hat über mehrere Generationen hinweg ausgestrahlt.

Raetz hat, darauf haben die unmittelbar erschienenen Nachrufe, unter anderem von SRF und NZZ, Bund, Tagesanzeiger und dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft alle verwiesen, – eine herausragende Stellung innerhalb der Schweizer Kunstgeschichte. Zum einen durch seinen frühen und nachhaltigen Erfolg: Raetz hat in den wichtigsten Schweizer Kunsthallen und Museen seit den frühen 1970er Jahren regelmässig ausgestellt. Durch die Teilnahme an drei Documenta-Ausgaben und seine grossen Einzelausstellungen in wichtigen europäischen Häusern hat er zudem auch eine bemerkenswerte internationale Karriere gemacht.

Neben diesen eindrücklichen Erfolgen zeigte sich schon sehr früh, dass die Kunst von Markus Raetz eine Qualität eigen ist, die der Gegenwartskunst nicht allzu oft zukommt: Werke von Raetz vermögen ihre Betrachterinnen und Betrachter vom Fleck weg und unmittelbar einzunehmen, und das nicht nur in den Zirkeln von Experten und Kunstkritikern, sondern bei einem breiten Publikum aller Generationen, von unterschiedlichster Herkunft und Kunst-Vorbildung.

Meine erste Begegnung mit Werken von Markus Raetz war in der von Anita Haldemann vorbereiteten Basler Ausstellung von 2012. Es fiel auf, dass die Ausstellung schon nach kurzer Zeit ganz unerwartet stark besucht war – vor allem waren es die elsässischen Schulklassen, die in grosser Anzahl kamen. Zu beobachten waren von Lehrern angeschleppte gelangweilte Teenager, die sich im laufe des Ausstellungsbesuchs auf zauberhafte Weise in angeregt diskutierenden Gruppen verwandelten. Sie hatten ein spezielles Leuchten in den Augen, wenn sie wieder und wieder blinzelnd und staunend von der sich im Negativraum abzeichnenden Aktfigur standen, die von den rotierenden Zylindern in der Skulptur «Moulages» gebildet wird.

Was Markus Raetz jedoch über von seinen Erfolg als Künstler hinaus zu einer Ausnahmefigur gemacht hat, waren seine menschlichen Qualitäten. Seine oft zurückhaltende, nachdenkliche und immer neugierig offene Art, hat ihn mit vielen Menschen in unterschiedlichen Kontexten verbunden. In Bern hat er nicht immer, aber in entscheidenden Abschnitten seines Lebens gelebt.

Markus Raetz wurde am 6. Juni 1941 in Bern geboren und wuchs in Büren an der Aare auf. Von 1957 bis 1959 besuchter er – wie schon Johannes Itten – das Lehrerseminar in Hofwil bei Bern. In den Ferien arbeitete er jeweils im Atelier von Peter Travaglini, einem aus dem Tessin stammenden und in Büren lebenden Künstler. Einer seiner ersten Museumsbesuche galt dem Werk von Ferdinand Hodler im Kunstmuseum Bern, und ebenfalls schon sehr früh, zu dieser Seminarzeit befasst sich Raetz mit Robert Walser, wie er Konrad Tobler einmal erzählte[1]. Prägend für Raetz war aber auch das Paul Klee, mit dessen Werk er sich intensiv auseinandersetzte, zum Beispiel auch in der mit dem Klee-Zitat betitelten Arbeit «Diesseitig bin ich gar nicht fassbar» aus der Serie der «Mickey Mouse Anamorphosen».  Später sollte er auch beratend im Hintergrund bei der Entstehung des Zentrum Paul Klee tätig werden.

Nach einigen Jahren als Lehrer in Brügg bei Biel entschied er sich 1963, die Laufbahn des freien Künstlers einzuschlagen. Nachdem er sich vom Lehrerberuf losgesagt hatte, verdiente er sich das Geld für seinen Lebensunterhalt eine Weile lang als Karikaturist mit Zeichnungen, die unter anderem in der satirischen Zeitschrift «Nebelspalter» veröffentlicht wurden, – eine bereichernde Erfahrung, auch wenn er diese Zeichnungen später aus seinem Oeuvre ausschloss.

Von 1963 an bewohnte Raetz als Atelier zwei Zimmer und einen Dachstuhl mit Lattenverschlag in einem geraniengeschmückten Haus, unweit von Harald Szeemanns legendärer Wohnung in der Berner Altstadt. Heute ist das Haus umfassend umgebaut und hat seinen damaligen Charme und Charakter verloren. Jürgen Glaesemer beschrieb die Altstadtwohnung 1977 so: «oben bewohnt Raetz zwei weiss gestrichene, kleine Mansardenzimmer mit wenigen, einfachen Möbeln und Gebrauchsgegenständen: einem Bett, einigen Regalen und je einem kleinen Tisch mit Stühlen. Ein Eisschrank und ein Plattenspieler sind ungefähr der einzige Luxus. Einige Photos von Veronique Sanson und ein paar Postkarten von Freunden sind so ungefähr die einzige Dekoration.»

Markus Raetz’ künstlerische Laufbahn begann in der Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre in Bern, als Harald Szeemann in den Jahren 1961 bis 1969 die Kunsthalle leitete und Jean-Christophe Ammann sein Mitarbeiter war – dies in den Jahren 1967 bis 1968. Raetz konnte seine Arbeiten schon sehr früh und regelmässig in vielen Ausstellungen in der Galerie von Toni Gerber in Bern zeigen – zum Teil stellte er in den Sechziger- und Siebzigerjahren dort gleich zweimal pro Jahr aus.[2] Ab der ersten Ausstellung wurden seine Ausstellungen rezensiert, zunächst von Jean Christoph Ammann der regelmässig in der Zeitschrift «Werk» über Raetz berichtete. Über die zweite Ausstellung von Raetz bei Gerber berichtete er: «Das Werk von Markus Raetz hat sich seit der letzten Ausstellung verdichtet. Es überzeugt». Auch Harald Szeemann wurde zu einem wichtigen Freund, Vertrauten und Förderer von Raetz. 1967 schreibt Szeemann über ihn (und bezieht überraschend auch Raetz Sternzeichen in die Interpretation ein):  «Am vielschichtigsten präsentiert sich jedoch heute das Schaffen von Markus Raetz. Als echter Zwillingstyp bereichert er formale Probleme durch Mittel des Trompe-l-Œuil um eine inhaltliche Komponente, während dagegen die inhaltlichen Vorwände durch den Einsatz von Wiederholungen, Reihungen, Variationen, Projektionen formalisiert werden. Die Farbgebung […] stützt die seit Pop «wohlbekannte» Erkenntnis, dass typische Medien des Heute (Reklame, Mode, Reportage, Comic) ebenso  «kunstwürdige» Erreger sind wie weiland die Erscheinungsformen der Natur im berühmten Dictionnaire von Delacroix.»

1968 war Raetz aufgefordert an der documenta 4 (die letzte Arnold Bode-Documenta) teilzunehmen, ebenso lud Harald Szeemann ihn 1972 zu seiner Documenta 5 ein, und 1969 war Raetz mit einer Arbeit an Szeemanns legendärer Ausstellung When Attitudes Become Form in der Kunsthalle Bern vertreten. Die dritte Documenta-Ehre wurde Raetz 1982 auf Einladung von Rudi Fuchs zuteil.

Doch ebenso wie die internationalen Verbindungen pflegte Raetz die Bezüge zur Berner Kunstszene seiner und der älteren Generation, Anfang der sechziger Jahre zu Bernhard Luginbühl, Franz Gertsch, Rolf Iseli oder Christian Megert. Raetz konzipierte 1970 ein «Schema Berner Künstler, das beweist, dass jeder von jedem beeinflusst ist». Um 1970 arbeitete er eng mit Balthasar Burkhard zusammen. Als Markus Raetz 1969 das Atelier in Amsterdam bezieht, arbeiten Burkhard und Raetz dort weiter an gemeinsamen Projekten. Es entstehen Fotografien von alltäglichen Motiven, die praktisch in Originalgrösse auf Leinwand vergrössert werden – eine eindrucksvolle Serie, die im Kunstmuseum Luzern gezeigt wird und bereits 1970 zu einem Ankauf der Emanuel Hoffmann-Stiftung führte, – während das Berner Kunstmuseum sich einstweilen mit Ankäufen zurückhielt.

1969–1973 lebte Markus Raetz in Amsterdam, wo er sich an der Rietveld-Akademie weiterbilden konnte und wichtige Freundschaften knüpfte. 1970 heiratete er Monika Müller, zwei Jahre später wird die Tochter Aimée geboren. Es folgten Reisen und längere Aufenthalte in Ramatuelle in Frankreich, in Spanien und Marokko, sowie in Carona im Tessin. Das kleine Dörfchen ist Meret Oppenheims Tessiner Wohnsitz, um sie herum herrscht ein lebendiges Milieu von Künstlerinnen und Künstlern, die zu Besuch kommen oder auch eine Weile bleiben. Hier lebte die Familie Raetz in einem Haus an der Hauptstrasse des Dörfchens 1973 bis 1976 in der Nähe von Meret Oppenheim, mit der er nicht nur freundschaftlich verbunden war, – eine Weile entsteht ein intensiver Dialog, der Spuren im Werk beider Künstler hinterlässt.

1977  kehrt Raetz nach Bern zurück und bereitet eine grosse Doppelausstellung vor – der erste Teil ist ein Ausstellung im Kunstmuseum Bern, in der Jürgen Glaesemer seine Zeichnungen, von den Kinderzeichnungen bis zum Jahr 1976 zeigt, parallel dazu werden in der Kunsthalle Bern, damals unter der Direktion von Johannes Gachnang, Arbeiten der letzten Monate präsentiert. Mit den gezeichneten Büchern von Markus Raetz der Jahre 1972 bis 1976 beschäftigte sich die kunsthistorische Dissertation von Bernhard Mendes Bürgi, der spätere Gründer der Kunsthalle Zürich und Direktor des Kunstmuseum Basel, der sein Kunstgeschichtsstudium in den 1970er Jahren in Bern absolvierte, sich im Umfeld des Künstlers bewegte und zu einem Weggefährten wurde.

1978 kaufte das Kunstmuseum Bern die erste Arbeit von Markus Raetz: ein etwas Andy-Warhol-mässiges Selbstbildnis mit offenem Hemdkragen in Kunstharzspray auf Leintuch von 1977.

 

 

Insgesamt befinden sich heute knapp 500 Werke von Markus Raetz in den Sammlungen des Kunstmuseum Bern. Dies vor allem dank grosszügiger Schenkungen. An erster Stelle sind die aussergewöhnlich bedeutenden Schenkungen von Toni Gerber zu nennen, der 1983 ganze 211 Werke von Raetz, vorwiegend Zeichnungen und Objekte, dem Museum übergab. Mit der zweiten Schenkung von 1993 wurden es insgesamt 239 Werke, die Gerber dem Kunstmuseum Bern schenkte. Damit förderte dieser Galerist auf beispiellose Weise nicht nur durch die frühen, regelmässigen Ausstellungen, sondern über seine eigenen Ankäufe und die Schenkung seiner Sammlung an eine öffentliche Institution den Künstler in gleich dreierlei Hinsicht.

Eine weitere frühe Unterstützerin war die Galeristin Renée Ziegler, die dem Museum bereits 1978 eine Mappe von 31 Graphiken von Raetz schenkte. Und die Hermann und Margrit-Rupf Stiftung erwarb über die Jahre 167 Werke von Raetz, darunter bedeutende Konvolute seiner Graphik und Zeichnungen sowie zwei häufig in der Sammlungsräumen des Kunstmuseums Bern gezeigte Objektstelen. Die Victor und Annemarie Loeb-Stiftung, deren Werke ebenfalls im Kunstmuseum Bern deponiert sind, wurde zum Teil von Harald Szeemann bei den Ankäufen beraten. Die Stiftung besitzt vier Werke, darunter frühe, in denen noch der Kontext der Pop-Art spürbar ist.

Seit seiner Rückkehr nach Bern lebte Raetz deutlich zurückgezogener, während er konsequent seinen künstlerischen Weg weiterverfolgte und seine Ausstellungstätigkeit auf ganz Europa erweiterte. 1988 vertrat Raetz die Schweiz an der Biennale in Venedig. Auch zahlreiche Preise und Ehrungen blieben nicht aus: 1992 erhielt er die Auszeichnung zum Ritter des «Ordre des Arts et des Lettres» der Französischen Republik, 2006 den Prix Meret Oppenheim. Ein Jahr später nahm ihn die Akademie der Künste in Berlin in ihre Ränge auf.

Im Kunstmuseum Bern war Markus Raetz nach der grossen Ausstellung 1977 vor allem über die grosse fix installierte Rauminstallation Ohne Titel präsent, die von 1980 bis 1983 für den westlichen Annex-Raum im Obergeschoss des historischen Stettler-Baus entstand. Die 24teilige Rauminstallation, die Gemälde sowie kleine Objekte wie Äste aber auch Sitzbänke umfasst, ist eine Auftragsarbeit, die sich Direktor Hans Christoph von Tavel als dauerhafte Intervention vom Künstler in den Sammlungsräumen wünschte, – dies zu einem Zeitpunkt als der Annexbau von Atelier5 eröffnet wurde (Ralph Gentner von Atelier5 entwarf und baute übrigens mit Raetz sein Atelier in der Nähe der Schosshalde) und damit eine räumliche Erweiterung möglich war. Seitdem wird die Installation immer wieder für längere Zeiträume eingerichtet, zuletzt war sie bis 2017 längerfristig zu sehen.

 

Unter der Ägide von Direktor Matthias Frehner konnten mehrfach wichtige Werke von Markus Raetz erworben werden, insbesondere konnte 2012 ein bedeutender grösserer Ankauf direkt vom Künstler eines motorisierten Objekts aus Sperrholz und Aluminiumblech realisiert werden: Das Bullauge oder: D’après la seconde nature, von 2007 – 2011. Eine Arbeit die Raetz permanentes Studium der Wahrnehmung genauso auf den Punkt bringt wie seine zurückhaltend-feine Ironie gegenüber der Kunstgeschichte.

 

2014 fand die letzte grössere Markus Raetz-Ausstellung im Kunstmuseum Bern statt, die von Claudine Metzger anlässlich des Erscheinens des umfassenden Werkverzeichnisses der Druckgraphik (erstellt und herausgegeben von Rainer Michael Mason) eingerichtet wurde und das vielgestaltige druckgraphische Werk von Markus Raetz’ und seinen erfinderischen Umgang mit dieser Gattung der Kunst zeigte, ergänzt um die Präsentation von Skulpturen.

 

 

Die letzten zwei bedeutenden Ankäufe für die Sammlung des Museums konnte der Verein der Freunde des Kunstmuseum Bern 2016 direkt im Berner Atelier des Künstlers tätigen. Ein Besuch im Oktober 2016 mit dem gesamten Vorstand des Vereins, der lange in Erinnerung bleiben wird. Man entschied sich für zwei Skulpturen, für Moulage, sowie für Mimi, die spielerisch-minimalistische grossformatige Skulptur, die das Raetz’sche Oeuvre seit den 1980er Jahren in verschiedenen Ausführungen beschäftigte. 2019 wurde die Arbeit im Rahmen der Jubiläumsausstellung zur 100jährigen Geschichte des Vereins der Freunde zum ersten Mal in Bern gezeigt.[3] Markus Raetz hat uns letztes Jahr das Geschenk gemacht, die Arbeit vor Ort einzurichten, und die Position der Blöcke selbst zu bestimmen. Die von ihm eingerichtete Mimi liegt am Boden – als würde sie sich kurz ausruhen wollen. Aber sie birgt das Potenzial jederzeit aufzustehen und weg zu gehen. Jetzt ist Markus Raetz von uns gegangen.

 

 


[1] Dank an Konrad Tobler für diesen Hinweis.

[2] Die erste Ausstellung in der Galerie Toni Gerber in Bern fand vom 3. bis 30. Juni 1966, die nächste vom 8. September bis 15. Oktober 1967 statt, die folgenden vom  3.- 30. Juni und 15. – 31. August 1969 und 12. Sept. – 10. Nov. 1970. Die nächste Berner Ausstellung fand Sep.-Okt. 1971, diesmal in der Galerie Loeb satt. Im Anschluss stellte Raetz wieder bei Toni Gerber  aus, Aug. –Okt. 1972, in den Jahren 1974, 1976 und 1977 sogar jeweils zweimal.

[3] Kuratiert von Marie-Thérèse Bätschmann und Marianne Wackernagel. Ausst.-Kat. Freundeswerke : 100 Jahre Verein der Freunde Kunstmuseum Bern 1920-2020, hrg. von Marie-Thérèse Bätschmann, Verein der Freunde, Kunstmuseum Bern, Bern: Till Schaap Edition 2019. Darin: Nina Zimmer, «Der Raetzsche Mimi-Malismus», ebd. S. 197-203.