Velvets Underground

von Urs Rihs 20. Februar 2020

Am Ring. Aufzeichnungen von der dritten Underground Fight League in der Grossen Halle.

Dieser Text erschien zuerst im unabhängigen Kulturmagazin KSB

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Gerechtigkeitsgasse, Donnerstag, 14:08 Uhr

Vornehm steht sie da, auf dem Brunnensockel, leicht liegt ihr die Waage zur Hand und das Schwert. Die Augenbinde ist ihr Blei und Schutz – Justitia, blind muss sie sein, richten zu dürfen. Das Unparteiliche ist ein Vorwand, der entsagte Blick ist die Rechtfertigung des Urteils. Eine Geschichte in ihrer gesamten Sinnlichkeit zu erfassen, erschwert die Verdammnis. Das Vorurteil dagegen hilft dem Gehirn nicht ewig hin- und hergerissen zu sein, zu werten, zu einer Entscheidung zu kommen, nicht in den Finessen zu ersticken. Gut erzählte Geschichten sind auch Knebel – Anwälte sollten Poeten sein.

Restaurant Sous Le Pont, Samstag, 18:21 Uhr

Einer in Trainerhosen und Badelatschen steht am Tresen und fragt, ob er hier zwei Säcke Eiswürfel lagern könne. Für später, für ins Gesicht. Klar. Ob er denn was trinken wolle. «Irgendwas gegen die Nervosität, Verveinetee oder so.»

Auf dem Weg, 20:31 Uhr

Gespräche über Getränke, Lust am Purismus: Rotwein und Absinthe sind am besten, wenn sie nach Rotwein und Absinthe schmecken. Alles andere ist Firlefanz.

Vorplatz, 20:44 Uhr

«Dies ist ein Solidaritätsticket für die Underground Fight League 2020. Dein Beitrag ermöglicht die Begleichung eines horrenden Strafgeldes, welches die Schweizer Justiz auf eine Einzelperson abgewälzt hat. Du solidarisierst dich damit aktiv mit Menschen, die widerstehen und für eine andere Welt kämpfen. Vielen Dank! Refuse & Resist. Fuck the Police!»

Das steht auf den Vorverkaufstickets, vierzig Franken und seit einigen Tagen ausverkauft, erzählt man sich. Die Stadt ist voll mit Plakaten in Neon, grün, orange, pink, seit Wochen schon. UFL zum Dritten, zum zweiten Mal in der Grossen Halle, die Szene in Erwartung, fiebrig oder abschätzig. Fühlt sich an wie vor einer Abstimmung oder dem Cupfinal, je nach dem, wo es einem mehr brennt. Ein aktiver politischer Akt, die Teilnahme an der Fight League, wirklich? – fragen manche, auch wenn Einigkeit herrscht über die Unverhältnismässigkeit des Urteils. Andere wollen schlicht nicht sehen, wie sich ein paar Menschen, und ja, vor allem Männer, einen Abend lang aufs Maul geben. Sagen sie, fragen ungläubig: Wieso interessiert dich das? Hype ist immer exklusiv, bildhaft zu sehen an diesem Abend auf dem Vorplatz: Tickets an der Abendkasse kosten noch zwanzig Franken, sind sehr beliebt und sehr rar. Der Vorplatz ist voll, hochgekrempelte helle Blue Jeans und schwarze Daunenjacken, das Publikum sehr jung und ungefähr zu Dreivierteln männlich. Schon vor acht stehen die Leute Schlange, manche für ein paar Stunden. Die Gitter sind noch zu, Türöffnung ist um neun, am Ende kommen längst nicht alle rein. Zweite Flasche Absinthe, auch die bald leer.

Im Eingangsbereich, 20:56 Uhr

Um in die Arena zu gelangen, muss man durch einen inszenierten Überwachungsraum an blinkenden Monitoren, Reto-Nause-Portraits und Männern in Anzügen vorbei, von denen man kontrolliert wird und die einen in militärischem Jargon seltsame Sachen fragen. In der Mitte des Gevierts leuchtet der Boxring, dahinter führt eine als roter Teppich inszenierte Treppe zur Kulisse hoch, bewacht von zwei selbstgebastelten überdimensionalen Robocops. Die Kulisse nimmt die gesamte Schmalseite der Halle ein und ragt fast bis zur Decke: Das Bundeshaus. Aus dem Tor darunter werden später die Kämpfer*innen treten, zu lauter Musik, mit Nebel und Pyrotechnik, es ist flankiert von zwei Rednerpulten, auf denen fiktive Fascho-Symbole prangen. Geschäftiges Herumwuseln der coolen Jungs, Vorfreude und Erwartung nach einer Woche Aufbau. Die Boys tragen Vermummung und Bauchläden vor sich her, sie verkaufen Zigaretten und Popcorn. Die Grosse Halle ist ein aufwändig inszenierter Themenpark, der sich einer Vielzahl popkultureller Totalitarismus-Dystopien und Science Fiction zu bedienen scheint, ein referenzieller Remix.

Grosse Halle, 21:03 Uhr

Ganz oben im Dach begegnet sie uns wieder: Justitia, zur Stille verdammt. Hier über dem aufgemalten Bundeshaus, der Arena eine Spitze zu geben für die Underground Fight League 2020. Eine hingehaltene Zeugin, eine Lektion zu vernehmen im Unsagbaren – das Recht auf Aussageverweigerung muss nicht nur bedeuten, sich selber nicht zu belasten, sondern auch, dass dem Unsagbaren Rechnung getragen wird. Sprache ist ein Käfig und Rechtslateiner sind Kunstschlosser. Heute liegt die Macht in den Händen der Solidarität, die Racheengel fliegen an: moral over law – und Schweigen ist Gold.

Dojo, Vorbereitungszone, 22:11 Uhr

Der Geruch von Rosssalbe ist ein verheissungsvoller Geruch, ähnlich Benzin oder Dispersionsfarbe – es wird was passieren. Die heilige Ruhe in der Garderobe. Dumpf mischt sich von der Arena etwas Stimmungsmusik darein. Die ersten Athlet*innen machen Sparring oder schlagen katzenbucklig Löcher in die gesalbte Luft. Ein langer Trainer steht am Türrahmen, im zweiten Kampf wird er in der Ecke des Rings erwartet. Sein Schützling heisst Jamba, dessen einzige Chance auf Wettkampf sich mit solchen Gelegenheiten im Untergrund bietet. Nervös sei er nicht, sagt sein Trainer, selbst die Ruhe: «Ich denke, er wird gewinnen. Aber ich kann dir später noch was über Jamba erzählen …»

Presseloge, 22:26 Uhr

Am Eingang werden 2’000 Telefonkameras abgeklebt, eigentlich mindestens 4’000, vorne und hinten, die neuen Modelle sind sogar mit noch mehr Kameras bestückt, vier oder mehr – das erklärt uns einer der Boys, die uns im Rücken kleben. Er zeigt sein Phone, dessen Kameras mit schwarzen runden Kleber verdeckt sind. Diese Prozedur wird sorgfältig abgewickelt und dauert zweieinhalb Stunden.

Grosse Halle, 22:29 Uhr

Durchsage: «Es faht i wenige Ougeblicke a»

Presseloge, 23:23 Uhr

«Es chönnt scho langsam afah», sagt einer der Boys hinter uns. Trotzdem ist es erstaunlich, wie ruhig die Menge ist in diesem Moment und wie wenig verärgert, dass noch immer nichts passiert ist. Wie sich die Spannung positiv hält und sich langsam steigert. Eine Spannung auch, die nur funktioniert in der Erwartung eines Spektakels, in der annähernden Gewissheit, nicht enttäuscht zu werden. Hier drin kannst du nicht anders, als dem Hype zu glauben.

Presseloge, 23:35 Uhr

Die Arena ist voll, 2’000 Menschen sind nah zusammen gerückt, wir sitzen auf dem Plateau, ausgestellt über allem drüber und sind Teil dieser seltsamen dystopischen Inszenierung zwischen Paranoia, Überwachung und Verschwörungstheorien. Die Presse. In dieser Inszenierung sind wir keine kritischen Beobachterinnen mehr, kein Organ eines demokratischen Systems, nicht die vierte Gewalt, sondern die zweite: Das Propaganda-Instrument eines halb-imaginierten faschistischen Systems. Zugelassen sind nur autorisierte Medien, fotografieren und filmen ist den Besucher*innen strengstens untersagt, erklärt uns die Computerstimme und das symbolische Auge Siris von der Leinwand herunter. Wir sind also die Hofberichterstatter*innen einer fiktiven Diktatur. Und das an einem Ort, wo Medien üblicherweise der Zugang verweigert bleibt, wo an Versammlungen zu Beginn formell aufgefordert wird, dass Zivilpolizistinnen und Journalisten den Raum verlassen sollen. Die Idee der Hofberichterstattung ist also nicht sehr weit hergeholt, angesichts des Misstrauens gegenüber der Medien, das in diesen Kreisen nicht unüblich ist, Resultat gebrochenen Vertrauens, unsorgfältigen Journalismus und tendenziösen Framings.

Grosse Halle, 23:37 Uhr

Nach zweieinhalb Stunden elektrisierten Wartens bei gut ausgelesener Musik knallt der Korken, Blackout, Geschrei – die Underground Fight League wird eröffnet. Über dem Torbogen der imposanten Kulisse steht «panem et circenses» geschrieben, darunter läuft das glitzrige Moderationsteam ein. Kleine Brötchen werden heute nicht gebacken. Der erste Kampf: Tristan gegen Chris, Bern gegen Zürich, dreimal zwei Minuten Kickboxen im Hallendunst.

Zwischenspiel, 00:06 Uhr

Hainan lassen sich am Seil herab. Boy Lewin hat gesanglich keine Höhenangst, sieht aber beim abschliessenden Aufzug etwas verstört aus. Wir hätten uns panisch eingepisst. Was der Feldstecher sonst noch verrät: Hainans Juri muss sich den Hosenstall zumachen. Ansonsten Hemmungslosigkeit wie einst bei MTV und das Narrativ der Rückkehr: Die zwei verlorenen Söhne, von der Mittelstrasse zum Majordeal, auf der Suche nach Verortung.

Im Ring, 00:31 Uhr

Speedy Gonzalez aus Zollikofen ist schwerer als Ramba Jamba und sein beeindruckender Rücken ist mit Tätowierungen reich verziert. Der Rückhalt aus der Vorstadt im Publikum ist ihm sicher. Aber auch der mysteriöse Mann aus Tibet geniesst Sympathien. Freiheit für die Leidensgenoss*innen fordert indes die Einblendung auf zwei Leinwänden und der lange Trainer aus dem Dojo hat sich am Ring eingerichtet. Die Klingel läutet zum Kampf.

Im Ring, 00:37 Uhr

Beide Kämpfer bluten aus der Nase. In der dritten Runde sind die Schläge träge geworden, bis sich die beiden in den Armen liegen, sich aus Erschöpfung gegenseitig die Köpfe an die Schultern lehnen. Dann unvermittelt ein müder Haken aus der angedeuteten Umarmung, fast schon zärtlich.

Dojo, 00:51 Uhr

Jamba sitzt im eigenen Sud, er hat gewonnen, alles tropft, was tropfen kann, alles geschwollen, was schwellen kann. Wir sind nicht sicher, ob er uns hört, drei Freunde kümmern sich, lösen ihm die Schuhe, entfernen das Klebeband an seinen Handschuhen. Ein besorgter Sportarzt tastet an seiner Nase: «Die ist gebrochen.» Tastet an seiner Hand: «Die war schon vorher kaputt.» Jamba ist mit lädierter Linken in den Kampf gegangen, das durfte niemand wissen, sonst hätte der Gegner taktiert. Konnte uns der lange Trainer vorher natürlich nicht verraten. Jamba sagt: «Ich bin sehr glücklich», zerbeult wie eine Riesenkartoffel humpelt er zur Dusche – es ist der aufrechteste Gang, den wir an diesem Abend zu sehen bekommen.

Zwischenspiel, 01:27 Uhr

Irgendein Typ sagt die Trapez-Künstlerinnen an, er nennt sie ausschliesslich beim Vornamen, abgekürzt zur Verniedlichung. Nach drei Akrobatiknummern, am Seil, am Trapez, am Kronleuchter, fühlt sich die Nacht sehr spät an. Und das Intermezzo seltsam fremd, aufgesetzt im Vergleich zur rohen Ehrlichkeit der Kämpfe.

Revolutionäres Jugendtheater, 02:10 Uhr

Nun also die Auflösung, wieso überall Fahndungsplakate einer jungen Frau hängen: Die Inszenierung des totalitären Regimes, verkörpert vor allem von der Moderation, soll gestört werden. Es gibt eine Untergrundorganisation in diesem dystopischen Staat hier, und sie hat jetzt ihren grossen Auftritt. Eine Gruppe Aufständischer mit bunter Schminke im Gesicht stürmen die Arena, unterbrechen die Moderator*innen und fordern Freiheit und ein Ende der Überwachung.

«I ha o mau theäterlet» sagt einer vor uns, als unten die Revolution ausbricht und in einem inszenierten Wrestlingkampf die Deutungshoheit in dieser Diktatur verhandelt wird. So professionell diese Halle wirkt, so sehr fehlt es diesem Abend an einem Spannungsbogen, an sauberer Dramaturgie – Geschichten zu erzählen, sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Im Ring, 02:52 Uhr

Endlich Frauenkampf, Velvet aus Bern gegen Tank Girl Lu aus Zürich, Velvet läuft mit einer «Defend Rojava»-Flagge ein.

Rückblende: Kino in der Reitschule, 00:20 Uhr

Gut zwei Stunden vor ihrem Kampf: Durch Velvets Venen pumpt das Adrenalin, als würde ein Formel 1-Wagen beim Boxenstopp betankt. Das Kino ist ihre Kabine. Sie brüllt, spreizt sich, schlägt Räder vor der Leinwand. Als sie den Kopf des schreibenden Voyeurs zwischen ihre bandagierten Hände nimmt, dem Fremden einen Kuss zu verpassen, flackern ihre Augen und sie fragt: «What’s your name, oh Baby, listen to me, fuck passion, you can lose your eyes! I played that piece, my part was Sparta, fuck, Tom Waits – brrrlala, brrrlala!» (?)

Dann Chöre in kalabrischem Dialekt, Kryptisches, die Stereoanlage zerschellt an «Walk This Way» von RUN-DMC feat. Aerosmith, Velvet hüpft davon und ruft den Namen Bruno Arati, Bruno Arati! (Bruno Arati aka «Der Schleifer», †️ 2018, Berner Boxtrainer-Legende und Stadtoriginal, Anm. d. Red.)

Presseloge, 03:19 Uhr

Wieder Showeinlage, fast zehn Minuten schon: Modeschau am Ring entlang. Man sehnt sich nach dem Kampf. Mehr braucht es eigentlich nicht: Zwei im Sportgeist freundlich-feindlich verhakte Halbnackte, die elektrische Meute, die den Ring bildet, beinahe verschluckt und die Erregung und die Erschöpfung. Die schönsten Geschichten dieser Nacht waren allein aus diesem Material. Die Aufgekratztheit von Velvet, die Erhabenheit ihrer Niederlage, die Schwesterlichkeit nach dem Kampf. Und Jamba, der Tibeter, der mit einer lädierten Hand seine Geschichte schrieb.

Und so ist es auch hier wie mit den Spirituosen, die Lust am Purismus verfängt: Ein guter Wein muss nach Wein schmecken. Das gilt auch für Absinthe und es gilt für einen Untergrundkampf.

Und doch, verdammt: Was die Verrückten da hingezimmert haben, es kann einen nicht kalt lassen. Und so ist das Anmerken der inszenatorischen, im Speziellen der dramaturgischen Schwächen, Längen und Hänger, die dem Abend da und dort zusetzten, zuallererst ein Bedauern über die beeindruckende Energie, die eben manchmal in der Überambition verpufft ist.

Über all den Erzählungen aber, den sportlichen, den theatralisch-inszenierten, da steht eine moralische. Die Geschichte des Kollektivs nämlich, das sich solidarisch den Arsch aufgerissen hat, sie ist unumstösslich schön.

Im Bett, 04:55 Uhr

Das Dröhnen hallt nach, ein Pfeifen in den Ohren und die komplette Erschöpfung nach sieben Stunden Blockbuster. Trotzdem schlaf- und mindestens so ratlos bleibt nur noch die sedierende Ablenkung des Displays, wie immer nach solchen Nächten der Überforderung. Von Story zu Story bei Instagram, hängenbleiben bei Accounts mit vier- oder fünfstelligen Followerzahlen, Fotos von Boys auf dem roten Teppich vor der grossen Halle, von Boys, die nach Showbusiness und Major-Label ausschauen und sich für den Feed etwas Reitschuldreck abholen für die neuen Sneakers. Indes in der Grossen Halle: «Fotografieren strengstens untersagt.»

Rössli, Sonntag, 16:12 Uhr

Kratzt man an der Oberfläche einer Maschine, splittert nicht nur der Lack ab, sondern sie beginnt zu bluten. Hat Marx mal irgendwie gesagt, um zu verdeutlichen, in den Dingen stecken Menschen – Arbeit. Filme bluten, Kunstwerke und Anlässe auch. Die Underground Fight League war ein Blutbad. Und man beneidet die Kämpfer*innen an ihrer Stelle, dass sie das Blut auch im Mund hatten, in den Augen, auf den zitternden Muskeln. Dieser warme, metallene Geschmack – die Vergegenwärtigung von Leben und organischem Zusammenhang.

Das Drakonische wurde gehüllt in einen Mottenschwarm – unheimlich viele Schultern buckelten, was von Amtswegen über einen Leist gebrochen war. Das sollte der Exekutive zu denken geben. Gleichzeitig dürfte sie sich freuen: Die geballte Kraft verpuffte zwischen Boxhandschuhen, der grosse Aufstand blieb vorerst aus.