Doomed Paradise – Fotografie gegen das Vergessen

von Bernhard Giger 9. September 2019

In einer eindrücklichen Reportage dokumentiert der Berner Fotograf Tomas Wüthrich das Leben der Penan auf der Insel Borneo. Das Kornhausforum zeigt die Bilder in der Ausstellung «Doomed Paradise – The Last Penan Nomads».

Unter dem Titel «Doomed Paradise – The Last Penan Nomads» ist im Kornhausforum bis am 12. Dezember eine Fotoausstellung von Tomas Wüthrich zu sehen. Wüthrich, in Bern geboren, ist selbständiger Fotograf u.a. für GEO, Das Magazin, NZZ am Sonntag. Er gewann mehrere Preise für Pressefotografie. Zwischen 2014 und 2019 war er mehrmals länger auf der Insel Borneo und lebte dort mit den ursprünglich nomadischen Penan. Gegen die Zerstörung des Regenwalds, des Lebensraums der Penan, hat in den 1980er Jahren Bruno Manser erstmals öffentlich protestiert. Das Kornhausforum zeigt Bilder von Tomas Wüthrich. Eben erschien im Verlag Scheidegger & Spiess der Bildband «Doomed Paradise». Wir veröffentlichen untenstehend die Einführung in die Ausstellung von Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums, an der Vernissage vom 5. September.

Liebe Anwesende

Eine kleine Rückblende zu Beginn: Ein leises Schaudern muss durch die Schweizer Wohnstuben gestrichen sein, damals 1958, als die Reisejournalistin Katharina von Arx auf der Front der Illustrierten «sie+er» neben einem Eingeborenen-Häuptling in Neuguinea posierte. Die junge, lebenslustige Schweizerin neben dem schwarzen, nur spärlich angezogenen Mann, der zwar auch lächelt, aber Kriegsschmuck bei sich hat und vielleicht sogar ein Kannibale ist, man kann ja nie wissen.

Im vergangenen Jahr hatten wir hier auf der Galerie eine in Zusammenarbeit mit Wilfried Meichtry entstandene Ausstellung über das Leben von Katharina von Arx und ihren Reisen in den Urwald. Begleitet wurde sie dort vom französischen Fotografen Freddy Drilhon, der dann ihr Mann wurde. Seine in den frühen Fünfzigerjahren entstandenen Bilder von Expeditionen zu den Big Nambas auf den Neuen Hebriden sind frühe Höhepunkte ethnografischer Fotografie. Tomas Wüthrichs Penan-Reportage steht in dieser Tradition.

Man könnte Aufnahmen von Freddy Drilhon neben Bilder von Tomas Wüthrich stellen, und würde, abgesehen von den verschiedenen fotografischen Techniken, kaum Unterschiede finden in dem, was sie darstellen: Ein weitgehend noch intaktes System archaischen Lebens. Bloss die Rezeption solcher Bilder ist heute eine ganz andere als vor 60 Jahren. Damals hatten sie einen gewissen Sensationswert, in ihnen war noch der Geist der Pioniere und Entdecker zu spüren, die in die letzten weissen Flecken auf den Landkarten vordrangen. Der Blick darauf der westlichen Gesellschaft – zu der Zeit ganz dem Taumel des technischen Fortschritts, der unbedingten Machbarkeit von allem, erlegen – hatte etwas Naives, fast Kindliches. Es war ein letzter, halb verzückter, halb wehmütiger Blick auf das Unberührte.

Heute würde niemandem mehr einfallen, ein Bild wie jenes von Katharina von Arx und dem Häuptling auf das Cover einer Illustrierten zu setzen. Es würde als politisch unkorrekt empfunden, allenfalls als Satire. Denn der verzückte Blick auf die letzten Wilden von damals war auch ein kolonialistisch gefärbter Blick. Der Entdeckung folgte vielerorts die Eroberung. Sie schuf die Ursachen des Elends der Welt von heute: Ausbeutung und Kommerzialisierung der Ressourcen, Verdrängung und Zerstörung traditioneller, naturnaher Lebensgrundlagen, soziale Entfremdung und wirtschaftliche Not. Auch in Sawarak auf der Insel Borneo, früher ein Königreich, heute ein Teilstaat von Malaysia, ist es so abgelaufen. Zuerst kamen in den Fünfzigerjahren die Missionare, dann die Holzfäller und die korrupten Politiker.

Es gibt inzwischen ja auch keine weissen Flecken mehr zu entdecken, es ist alles Global Village. Wirklich näher gekommen sind wir uns deswegen nicht, wir wissen zwar alles, wollen es oft aber eigentlich gar nicht so genau wissen. Das mit dem Regenwald zum Beispiel. Er wird mit unheimlicher Wucht und weitreichenden Konsequenz zerstört, das wissen alle. Aber was können wir tun? Den Wahnsinn des brasilianischen Präsidenten, die Amazonas-Wälder abzufackeln, vermochten nicht einmal die G7 wirklich zu bremsen. Unterdessen, das ist der Zynismus von Global Village, ist der brennende Regenwald nicht mehr erstes Medienthema. Wer will denn jetzt noch gross davon reden, wo Hongkong brodelt und London bebt. Bis zum nächsten Brand, sterbender Regenwald, ist man fast versucht zu sagen.

Gegen das Vergessen und Verdrängen gibt es nur eines, Gegen-Öffentlichkeit schaffen, wo und wie es geht. Die Penan, von denen die meisten zur Sesshaftigkeit und Landwirtschaft gezwungen wurden, weil ihr einstiger, natürlicher Lebensraum zu 90 Prozent abgeholzt ist, die Penan haben einen Botschafter gefunden: Bruno Manser hat die Zerstörung des Regenwalds und damit der Lebensgrundlage der Penan in den Achtziger- und Neunzigerjahren international ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Der Fonds, der seinen Namen trägt, hat seine Arbeit fortgesetzt, in Medizin-Projekten und in der Herstellung von Landkarten, die in Zusammenarbeit mit den Penan über fünfzehn Jahre entstanden sind. Sie verleihen dem, was trotz allem noch immer ihre Heimat ist, erstmals eine feste, übersichtliche und für alle gleichermassen lesbare Struktur.

Und jetzt diese Reportage von Tomas Wüthrich, über rund sechs Jahre entstanden, ein fotografisches Schwergewicht, auch ganz direkt: Das Buch ist ein Kilogramm schwer, weil es auf feuchtigkeitsbeständigem Papier aus Kalkmehl gedruckt wurde, damit es, wenn es dann zurückkehrt an den Ort, an dem es entstanden ist, in den Regenwald auf Borneo, auch erhalten bleibt. Es ist nicht nur ein Buch über, es ist vor allem auch ein Buch für die Penan.

Die Reportage, darüber macht sich niemand falsche Illusionen, wird an der aktuellen Situation der Penan kaum etwas ändern. Fotografie zeigt die Welt, sie verändert sie nicht, sie trägt höchstens dazu bei, dass wir sie anders sehen. Aber die Penan können sich nun gewiss sein, dass es auf der anderen Seite der Erde Menschen gibt, die einiges wissen über sie: Wie sie leben, unterwegs, auf der Jagd, beim Heraustrennen der Fasern der Sagopalmen, oder daheim, wo immer das gerade ist, im Baumhaus, beim nächtlichen Zeitungslesen vielleicht. Und wie sie sich verteidigen gegen die Holzfäller, mit Barrikaden, die jeder Traktor gleich nieder reissen kann, aber mit einer Entschlossenheit und einer Tapferkeit, die bewegt. Und schliesslich, und entscheidend: Wie sie aufgehen im Wald und eins werden mit ihm. Es gibt ein Gefühl, das sich allmählich einstellt, wenn man durch die Bilder von Tomas Wüthrich geht: Es ist das Gefühl, an einem Ort zu sein, der so ist wie der Ort, an dem einmal alles angefangen hat. Am Beginn der Welt, sozusagen.

Tomas Wüthrich, 1972 in Bern geboren, war in der Sozialarbeit und fand dann – unter anderem über einen Lehrgang am MAZ Luzern – zur Pressefotografie. Sechs Jahre gehörte er zum Fotografenteam der «Berner Zeitung». Danach machte er sich selbständig. Er blieb beim Bildjournalismus, machte Reportagen in Afrika und in Sibirien, gewann einige Preise. 2014 ging er zum ersten Mal nach Borneo, es war eine Auftragsarbeit für den «Beobachter». Dann blieb er hängen, ging wieder hin und wieder. Tomas Wüthrich hat zu diesen Menschen einen Zugang gefunden, wie er wohl selten ist für einen, der von aussen kommt. Sie leben in einem ganz anderen Rhythmus und einem ganz anderen Kulturkreis, sie bleiben einem fremd, bei aller Nähe, die man vielleicht zu empfinden meint, und einiges, was sie tun, ist für unser Empfinden befremdlich. Tomas Wüthrich hat sich einzufügen versucht in diesen anderen Rhythmus, er wollte seinen Blick davon leiten lassen. Das spürt man nun Bild für Bild: Er ist einfach dabei gewesen, in ungewöhnlicher Rolle zwar, aber akzeptiert von der Gruppe, mit der er lebte. Nichts wurde für die Kamera inszeniert, alles hat sich zugetragen wie es sich immer zuträgt.

Auf den ersten Blick macht einen Tomas Wüthrichs Regenwald-Reportage traurig. Es ist eine untergehende Welt, die sie dokumentiert, daran gibt es nichts zu rütteln, höchstens vielleicht das Schlimmste zu verzögern. Es schmerzt, diesen Nomaden bei ihrem Widerstand zuzuschauen, und es macht ratlos, weil man ausser Respekt nicht viel beitragen kann.

Doch die Bilder vermitteln eben auch etwas Erfrischendes, manchmal fast Verschmitztes. Schaut her, scheinen diese Menschen zu rufen, wie praktisch und unkompliziert es eigentlich ist, mit dem Leben umzugehen und dem, was drumherum ist, den Dingen, dem Wald und vielleicht den Göttern. Der Häuptling neben Katharina von Arx war 1958 ein Exot und wurde als solcher dargestellt. Bei den Penan sitzen wir mit am Feuer. Sie werden dort bleiben, wenn man sie denn lässt, wir gehen weiter. Aber vergessen werden wir sie nicht mehr, dafür sind sie uns zu sehr ans Herz gewachsen in dieser ungewöhnlichen Begegnung, an der uns Tomas Wüthrich in seiner Reportage teilhaben lässt. Es freut mich sehr, dass wir sie hier zeigen können.