Zwanzig Mutmacherinnen

von Christoph Reichenau 6. September 2019

Während im neu eröffneten Casino das Galakonzert läuft, tanzen in der Grossen Halle zwanzig Frauen «Umwerfend Standhaft». Goldglanz dort, rauhe Kargheit hier. Grösser könnte der Kontrast nicht sein. Beides ist Teil unserer Kultur. In der Halle ist das Publikum Teil des Stücks.

Nicht ich. Ich hätte mich nicht getraut, mich zu exponieren wie es die Frauen in Lucia Baumgartners Tanzstück «Umwerfend Standhaft» in der Grossen Halle der Berner Reitschule tun. Zwanzig Frauen im Alter von 13 bis 81 Jahren bilden das Ensemble, alle sind Laiinnen mit unterschiedlich breiter und intensiver Tanzbildung und Tanzerfahrung.

Es gibt keine Bühne, keinen Zuschauerraum, keine festen Stühle, keine vorgegebene Blickrichtung. Von den Rändern der Halle treten die Tänzerinnen auf, betreten oder durchqueren die Mitte, verbinden sich mit anderen. «Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein», hat Ludwig Hohl geschrieben; hier wird dies getanzt in wechselnden Formationen, die sich immer neu bilden und auflösen.

Mittendrin und drumherum

Die Zuschauerinnen und Zuschauer stehen oder sitzen auf Klappsesselchen mittendrin oder drumherum. Sie folgen den Tanzenden in der meist dunklen Halle. Die Tänzerinnen umkurven sie, verschaffen sich Durchlass, suchen eine Gasse. Momentweise ist unklar, wer tanzt und wer sich bewegt, um den Tanzenden Platz zu machen. Dann wiederum formiert sich das Publikum im Ring um die Tanzfrauen in der Mitte. Kein Durcheinander, wie man vermuten könnte, sondern eine von der Musik und den Einsätzen der Auftretenden bestimmte gemeinsame Bewegung.

Also doch auch ich. Ja, es gibt keine Chance, sich ganz zu verweigern. Wer zuschaut, muss in minimaler Weise mitmachen, wird dadurch Komplizin oder Komplize der Tänzerinnen, ist nahe bei ihnen, hört ihren Atem, spürt die Konzentration, die Anstrengung. Und erlebt die Überwindung der Tanzenden, sich ihren Partnerinnen anzuvertrauen und die Freude des Aufgehobenseins bei ihnen.

Sich trauen

«Umwerfend Standhaft» ist – absolut beurteilt – nicht grosse Tanzkunst. Das Stück will dies auch nicht sein. Es will zeigen, was begabten Menschen jeden Alters – hier zwanzig Frauen – gelingen kann, wenn sie sich getrauen und von professionellen Tanzschaffenden angeleitet werden. Und wenn die Choreografie sie an ihre Grenzen führt, aber nicht darüber hinaus.

Dies gelingt der Choreografin Lucia Baumgartner hervorragend. Die Tänzerinnen setzen die Vorgabe engagiert und mit viel Können um. Keine Übertreibung, keine unangepasste Bewegung, gelegentlich eine kleine Improvisation. Am Ende ist jede Mitmachende einen halben Kopf grösser.

Die wahrnehmbare Freude der Tänzerinnen an ihrer Darbietung überträgt sich auf die Zuschauenden. Die Auftretenden machen Mut, uns selber einmal zu überwinden, über unsere Hemmungen hinauszuwachsen. Auch so wird man – zuschauend, mitgehend – ein kleiner Teil des Ganzen, hat Anteil am Geschehen, wird berührt vom Mut der Tänzerinnen und ihrer Bereitschaft, etwas mit einem zu teilen.

Viele Bedeutungen

Christine Haslers («Lia Sells Fish») Musik, mal dunkel, mal hell fordernd, akzentuiert den Rhythmus der Bewegungen, stärkt die Tanzenden, hält sie mit Wörtern und Klängen zusammen. Und gibt ihnen buchstäblich eine Stimme.

«Umwerfend Standhaft» – der Titel erschliesst sich nicht einfach. Man kann die Wörter je für sich verstehen: umwerfend und standhaft; jede Person ist mal so (etwa charmant), mal so (zum Beispiel stur). Man kann umwerfend standhaft sein, also extrem konsequent, beharrlich, nicht aus der Spur zu bringen. Alle haben wir viele Seiten, Facetten. Das Stück zeigt einige davon und lädt ein, weiterzudenken und dem Erlebten nachzufühlen.

 

Weitere Aufführungen am 6. und 7.9, um 19:30, am 8.9. um 11:00 in der Grossen Halle der Reitschule Bern. www.influxdance.com.