Kindheits- und Jugendjahre in der Matte

von Barbara Büttner 6. Januar 2019

«Geschichten aus der Matte – Alte Mätteler erzählen» heisst ein soeben erschienenes Buch von Hans Markus Tschirren.

Wenn ältere Menschen aus ihrem Leben erzählen, erfahren die Nachgeborenen oft eine Fülle höchst spannender Geschichten, die so sonst nirgendwo zu lesen sind. Der pensionierte Primarlehrer und ehemalige Sportjournalist Hans Markus Tschirren hat solche Erinnerungen aus dem wohl speziellsten aller Berner Stadtquartiere zusammengetragen. «Geschichten aus der Matte – Alte Mätteler erzählen» heisst sein eben erschienenes Buch.

Arbeiter und Gewerbetreibende

Die Matte war schon immer die Heimat kleiner Gewerbetreibender, von Handwerkern, Fischern oder Schiffern – und später der Arbeiter. Die Mätteler blieben unter sich – zu rauh war ihr Ton für die Leute aus der «Oberstadt» und zu unverständlich ihre Sprache, das «Matteänglisch». Die Armut war bis weit über die Mitte des letzten Jahrhunderts in vielen Haushalten ein steter Gast, und die Wohnverhältnisse oft prekär. Im Buch berichtet davon Beat Gauch, ein ehemaliger Mätteler mit Jahrgang 1946. Er wuchs mit seinen neun Geschwistern in einer 3-Zimmerwohnung in der Gerberngasse auf. «Wir hatten eine Stube mit einem grossen Tisch und vier Betten. Dort schliefen die Mädchen. Dann gab es ein längliches Zimmer. Dort standen drei Betten für uns sechs Buben.» Eine Toilette gab es in der Wohnung nicht, nur ein Plumpsklo auf der Laube. «WC-Papier konnten wir uns nicht leisten – aber wir hatten alte Telefonbücher. Weil das Papier glatt war, mussten wir es zuerst geschmeidig machen, aber es ging schon», erzählt er trocken.

Schmerzhafte Ballspiele

«Aber es ging schon» – das ist ein Satz, der als Motto über den Kindheits- und Jugenderinnerungen der im Buch versammelten Mätteler stehen könnte. Mit Lakonie und auch Witz berichten sie über ihr Leben, das ein ständiges, pragmatisches sich Arrangieren mit zum Teil widrigsten Umständen erforderte. Die Geschichten ihrer schul- und ausserschulischen Streiche belegen, wie sich diese Kinder neugierig und selbstbewusst Freiräume eroberten. Der Geldmangel liess ihren Erfindungsreichtum wachsen. So bastelten sie sich Gummibälle. Sie formten durchnässte Zeitungen zu einem etwa apfelgrossen Ball und umwickelten ihn ganz fest mit kaputten Velo-Schläuchen. «Je mehr Schichten den Ball umgaben, desto besser hüpfte er. Weitere Gummeli ‘verschlaufte’ man zu einer Kette, die man am Ball befestigte. So kam der Ball, wenn man ihn warf, wieder zurück. Das war praktisch, denn wenn ein Spielkamerad getroffen wurde, war man schon ein wenig auf Distanz und konnte die Flucht ergreifen. Denn der auftreffende Ball schmerzte», erinnert sich der heute 88-jährige Erwin Sommer. Bei der Lektüre dieser reich bebilderten Mattegeschichten wird spürbar, dass sich die Erzählenden trotz aller Widrigkeiten ihre Kindheit und Jugendzeit als eine glückliche bewahrt haben.

Ittu’me

Kaum einer der Mätteler, die in Hans Markus Tschirrens Buch zu Wort kommen, lebt heute noch in der Matte. Der Autor selbst hat nie in der Matte gewohnt, doch früh schon hat ihn das Quartier interessiert. In einem Volkshochschulkurs über die «Varietäten des Berndeutschen» lernte er Peter Hafen kennen, den langjährigen Präsidenten des Matteänglisch-Clubs. Das hatte Folgen: Eine zehnjährige Mitgliedschaft im Vorstand des Matteänglisch-Clubs – und ein gemeinsames Buch mit Hafen über die Sprachen, die in der Matte gesprochen werden. «Ittu’me inglisch’e» heisst es, «Matteänglisch», und ist eine unterhaltsame Einführung in die Geschichte des Quartiers wie in den Mattedialekt und das Matteänglisch. Denn das sind bekanntlich ja zwei paar Stiefel.

Geschichte durch Geschichten bewahren

Dieses Buch über die Matte sollte umgehend wiederum Folgen haben. Kurz nach seinem Erscheinen meldeten sich nämlich ehemalige Mattebewohner, aus Spiez und anderswo bei Tschirren. In seinem Wohnort Hinterkappelen outeten sich nach einer Lesung gleich zwei Bekannte aus dem Ort als gebürtige Mätteler. «Wir haben uns dann getroffen und die Idee geboren, ein Buch mit ihren Mattegeschichten her-auszubringen.» Zwei Jahre hat es von der Idee bis zum Erscheinen des Buches gedauert. Es sei zwar «sein Buch», schmunzelt Tschirren, aber er selbst habe am wenigsten geschrieben, sondern vor allem redaktionell gearbeitet.

Der Lehrer im (Un-)Ruhestand, der im Rahmen eines Projekts der Kirchgemeinde Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund betreut, hat ein Faible für Geschichten. Und ist selbst ein begeisterter Geschichtenerzähler, weil er weiss, dass Geschichte immer dann lebendig bleibt, wenn sie gut weitererzählt wird. Mit den Geschichten der Zeitzeugen aus der Matte hält Tschirren die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit im Schwarzen Quartier wach.