Wenn der Verstand 
die Vernunft verliert

von Fredi Lerch 21. Dezember 2018

Der Kulturphilosoph Jean Gebser (1905-1973) hat seine letzten 18 Jahre in Bern verbracht. Eine Tafel an der Kramgasse 52 und eine Gedenkstele in Wabern erinnern an ihn. Jetzt ist ein Sammelband mit seinem Spätwerk erschienen.

Der Band 3 der Jean-Gebser-Reihe (JGR) umfasst Vorträge und Essays ab 1956, den Reisebericht «Asien lächelt anders» (1968) und die posthum erschienene Textsammlung «Verfall und Teilhabe» (1974). Eingeleitet wird der Band mit Aufsätzen der beiden Herausgeber: Elmar Schübl porträtiert Gebser als «Reisende[n] und Erkunder von Bewusstseinswelten», Rudolf Hämmerlis Notizen zum hier versammelten philosophischen Spätwerk tragen den Titel «Der Einbruch des Zugleich».

Eine Geschichte des Bewusstseins

Jean Gebser lässt sich nicht leicht schubladisieren. Darum kennt man ihn zu Unrecht meist nur vom Hörensagen: Er sei ein Weitgereister, der um 1955 im Künstlertreffpunkt Café du Commerce aufgetaucht und dann in Bern hängen geblieben sei, ein Schriftsteller und Vortragsredner, der auch gedichtet und über das Bewusstsein philosophiert habe. Tatsächlich hat er in seinem zweibändigen Hauptwerk «Ursprung und Gegenwart» (1949 und 1953) eine Geschichte des menschlichen Bewusstseins entworfen: Über die Jahrtausende sei es in Mutationen übergegangen vom archaischen über das magische und das mythische in das mentalrationale. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts nun kündige sich als vierte Mutation der Übergang zum integralen Bewusstsein an.

Der neue Band der JGR dokumentiert Gebsers unaufhörliches Bestreben, in der Wirklichkeit Spuren der Weiterentwicklung des Bewusstseins zu finden. Für ihn ist klar: Das zurzeit dominierende ist unrettbar verstrickt in «die rationale Sackgassen-Situation des nichts-als-gegensätzlichenden Denkens». Nötig sei, schreibt er, die Überwindung dieser «materialistisch-final betonten Betrachtungsweise» durch «eine geistig-integrale».

Gebsers Asienreise

Vom Frühling bis zum Sommer 1961 bereist Jean Gebser den ostasiatischen Kontinent von Indien über China bis nach Japan. Im folgenden Jahr veröffentlicht er die «Asienfibel», die er bis 1968 zum Buch «Asien lächelt anders» erweitert. In diesem Reisebericht – dem Hauptstück im nun erschienenen Band – geht es zum Beispiel um die merkwürdige Art, wie Taxifahrer in Tokio abrechnen; um eine Porzellangeschirrsendung aus China, die mit vierzigjähriger Verspätung in Bern eintrifft; um ein Treffen mit dem damals kaum 26jährigen Dalai Lama in Dharamsala oder eines mit dem «bedeutendsten Zen-Meister unseres Jahrhunderts», Daisetz Teitaro Suzuki, in Kita-Kamakura. Es geht um den asiatischen Mutterkult und um die Soeur Thérèse in Kalkutta, «eine albanische Nonne», die Jahrzehnte nach Gebsers Tod, 2016, vom Papst als Mutter Teresa heiliggesprochen worden ist.

Aber um all das und vieles mehr geht es aus Gebsers spezifischer Perspektive: Es geht darum, aus dem Beobachteten und Erfahrenen auf die Eigenheiten des Bewusstseins der Menschen zu schliessen. Es geht darum, wie die asiatischen Glaubens- und Weisheitslehren die Bewusstseinsstrukturen so beeinflussen, dass das, was aus seiner europäischen Perspektive manchmal merkwürdig erscheint, zur Normalität eines Alltags werden kann.

Vor der grossen Begegnung?

Aus den geistigen Bezügen zwischen Ost und West, die er findet, zieht Gebser die Hoffnung auf eine «Grosse Begegnung» der Kulturen, die sich anbahne. Allerdings: «Wenn die ‘Grosse Begegnung’ Wirklichkeit werden soll, so gewiss nicht dadurch, dass der Westen den Osten rational durch die Europäisierung oder Amerikanisierung besiegt oder umgekehrt der Osten den Westen in eine irrationale Knechtschaft und Abhängigkeit zu zwingen sucht. Wo es Sieger gibt und Besiegte, da wird es nie Frieden geben. Und der Friede ist die Voraussetzung für die ‘Grosse Begegnung’.»

Fünfzig Jahre, nachdem Gebser die Hoffnung auf diese «Grosse Begegung» formuliert hat, ist es schwer, sie nicht endgültig zu verlieren. Er formulierte seine Hoffnung so klar, weil «der Verstand, seit er die Vernunft verlor, […] sich zu blosser Ratio erniedrigt» habe und deshalb dringend überwunden werden müsse. Dieser Verstand ohne Vernunft dominiert aber auch heute – wie zu Gebsers Zeit im Kalten Krieg – ungebrochen die grossen politischen Diskurse: Der gesellschaftliche Reichtum wird solange von unten nach oben umverteilt, bis die Kosten zur Bekämpfung sozialer Unruhen zu teuer werden. Die Kämpfe um die verbliebenen Ressourcen der Welt (inklusive Wasser) werden immer bedrohlicher. Und die Klimakatastrophe wird von den Zuständigen routinemässig zur «Klimaveränderung» beschönigt, die mit dem Handeln der Menschen sowieso nichts zu tun habe.

Tatsächlich: Der politische Verstand hat die Vernunft verloren.

Nötig ist ein anderes Bewusstsein

Darum mahnt Gebser in seinen späten Texten leitmotivisch, die Mutation zum integralen Bewusstsein nicht zu verpassen. Er warnt davor, dass «das heutige Europa nahe am Abgrund lebt» und dass die heutige Menschheit ohne «Intensivierung des Bewusstseins […] infolge Missbrauchs und Leerlaufs rationaler Fähigkeiten zugrunde gehen» werde. Ohne eine neue Lebensgestaltung durch das integrale Bewusstsein seien «Welt und Menschheit zum Tode verurteilt».

Gegen diesen selbstzerstörerischen Verstand ohne Vernunft und um nicht in den «Chor der Niedergängler» einstimmen zu müssen, formuliert Gebser seine Hoffnung: «In dem Masse, wie wir das neue, das integrale Bewusstsein auszubilden vermögen, wachsen uns die Kräfte zu, dank deren wir der Menschheit und damit auch uns die Chance geben, noch einmal zu überleben.»