Von Hausbesetzungen zu autonomen Zentren

von Michael Spahr 20. Juni 2018

Für die einen sind sie «Schandflecke», für die anderen «bunte Oasen in den grauen Städten»: autonome Zentren, die aus Hausbesetzungen entstanden sind. Das Projekt «Squatopia» nimmt eine Auswahl dieser Häuser unter die Lupe und gibt einen Blick hinter die versprayten Fassaden. Rund 40 Aktivist*innen und Stadtforscher*innen diskutieren in «Squatopia» über Themen wie Basisdemokratie, Selbstverwaltung, Lohnarbeit, Selbstausbeutung, Neoliberalismus, Globalisierung, Stadtmarketing und Gentrifizierung.

«Squats» (englisch für besetzte Häuser) sind Orte, wo aus Utopien Realität werden kann. Mit diesem Anspruch haben sich Tausende von Menschen in den letzten Jahrzehnten brachliegende Räume und Plätze angeeignet. Bekanntestes Beispiel in Bern ist die Reitschule, die erstmals 1981 besetzt, allerdings nach einem halben Jahr schon wieder polizeilich geräumt wurde. Im Oktober 1987 erfolgte eine zweite Besetzung, die von der Stadt Bern geduldet wurde und seit Dezember 1987 vertraglich geregelt ist. Die Forderung nach Zentren für Subkultur und selbstverwalteten Freiräumen für politische und soziale Experimente wurde bereits von der Jugendbewegung 1968 formuliert. Da die etablierte Politik meist nicht auf diese Forderung einging, begannen Jugendliche die Umsetzung selber in die Hand zu nehmen. Sie besetzten leer stehende Häuser, Industriebrachen oder ungenutzte Plätze. Bereits in den Siebzigerjahren entstanden Orte wie das Christiania in Kopenhagen oder die Arena in Wien.

Die Blüte der Hausbesetzungsbewegung fand in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren statt. In Berlin-Kreuzberg waren Anfang der Achtzigerjahre fast 200 Häuser besetzt. Damals war West-Berlin besonders populär bei jungen Männern, die keinen Militärdienst leisten wollten, weil sie davon befreit waren, wenn ihr Wohnsitz Berlin war. Gleichzeitig standen in Kreuzberg viele Gebäude leer, weil sich zahlreiche Unternehmungen aus dem von Mauern umgebenen Stadtteil zurück gezogen hatten. Eines der besetzten Häuser von damals ist die Regenbogenfabrik, die 2011, dreissig Jahre nach der Besetzung, einen dreissigjährigen Erbpachtvertrag erhielt.

Oft waren Hausbesetzungen kurzlebig. Manchmal existierten sie nur für eine Nacht, wurden sofort polizeilich geräumt oder freiwillig von den Besetzer*innen verlassen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren begannen viele Städte Hausbesetzungen zu dulden. In Genf wurden Häuser damals nur noch polizeilich geräumt, wenn die Besitzer*innen konkrete Pläne vorweisen konnten, wie die Häuser genutzt werden sollten. Die Besetzer*innen genossen bei der Genfer Bevölkerung einen starken Rückhalt, weil die Spekulation mit Boden und Immobilien masslos geworden war. Auch in Genf existierten gegen 200 besetzte Häuser. Erst als die Politik nach dem Jahr 2000 nach Rechts driftete, wurde die lebhafte Squat-Szene aufgelöst. Ähnliches passierte in den Niederlanden und Grossbritannien, wo der politische Wind von einer toleranten hin zu einer repressiven Politik drehte. Trotzdem haben in fast jeder grösseren westeuropäischen Stadt einzelne autonome Zentren überlebt. Einige Besetzer*innen haben die Häuser selber gekauft als Genossenschaft oder als Mietshäusersyndikat. Andere haben mit den Besitzer*innen Verträge ausgehandelt. Häuser, die nach mehreren Jahrzehnten immer noch illegal sind, gibt es kaum. Eine Ausnahme ist die Rote Flora in Hamburg, die nur am Anfang der Besetzung einen Vertrag hatte. Seit 1989 ist die Flora illegal besetzt, bezahlt keine Miete, kommt nur für Strom und Wasser auf und wird hundertprozentig von Freiwilligen betrieben.

Von Freiwilligenarbeit werden auch andere Häuser nach Jahrzehnten immer noch getragen. In der Türkis Rosa Lila Villa in Wien leisten die Besetzer*innen gratis Beratungsarbeit für Schwule, Lesben und Trans-Menschen. Städtische Subventionen fliessen in die Instandhaltung des Hauses. Doch auch dort laufen im Moment Diskussionen darüber, ob ein Teil der Arbeit bezahlt werden soll. Das Projekt «Queer Base», das geflüchtete LGBTIQ-Menschen berät, hat in der Türkis Rosa Villa seine Zelte aufgeschlagen und bezahlt Löhne für einzelne Berater*innen. Fast jedes autonome Zentrum, das über mehrere Jahrzehnte existiert hat, kennt die Diskussion. Einige Häuser haben sich denn auch schon früh dafür entschieden, dass gewisse Arbeit bezahlt werden soll, wie zum Beispiel das WUK in Wien, das neben einem Mehrsparten-Kulturhaus auch ein Bildungsangebot für benachteiligte Jugendliche anbietet.

Das Hauptargument für bezahlte Lohnarbeit ist, es sollen nicht nur privilegierte Menschen – wie Studierende oder Kinder reicher Eltern – es sich leisten können, in einem autonomen Zentrun tätig zu sein. Vor allem dann, wenn ein Haus einen geregelten Betrieb aufnimmt und regelmässig ein Veranstaltungsangebot bietet, wird es für viele schwierig, den professionellen Anspruch mit unbezahlter Arbeit aufrecht zu erhalten. Zuweilen nehmen die Häuser in solchen Fällen staatliche Subventionen entgegen.

Die Beziehungen zu den Städten haben sich nämlich in den letzten Jahrzehnten verändert. Wurde der Staat ursprünglich verachtet und als Feindbild betrachtet, wird er heute zuweilen sogar von Anarchist*innen verteidigt – «als letzte soziale Institution in einer vom neoliberalen Raubtierkapitalismus geprägten Gesellschaft». Hinzu kommt, viele Städte werden heute von linken und grünen Politiker*innen regiert, die selber einst Häuser besetzt hatten oder dort ein und aus gingen. Doch nicht alle autonomen Zentren sehen sich als Partner*innen vom Staat. Der KTS in Freiburg kooperiert mit der Stadt nur dann, wenn es für ihn Sinn macht. Er will bewusst nicht abhängig von der Stadt sein und verzichtet auf bezahlte Stellen. Wenn es nicht genug Leute hat, die politische Diskussionen oder Konzerte organisieren, dann gibt es halt einfach weniger Veranstaltungen, argumentieren die Aktivist*innen. Eines haben alle Häuser gemeinsam: Den Weg, den sie einschlagen, wird kaum je von Aussen diktiert, sondern erfolgt selbstbestimmt von Innen.

Der Anspruch, selbstverwaltet und selbstbestimmt zu sein, ist praktisch überall geblieben. Der Anspruch hingegen, dass jeder und jede bei einem Konzert ein Mischpult bedienen kann und nach dem Konzert auch noch Bier zapft, ist meist nach wenigen Jahren verschwunden. Kleine alltägliche Entscheidungen werden in den Gruppen innerhalb der Häuser schnell und unkompliziert gefällt. Für grosse Entscheidungen braucht es in den meisten Häusern noch immer ein Plenum oder eine Vollversammlung. Und dort gilt meistens der Anspruch, es wird basisdemokratisch im Konsens entschieden. Das heisst, es wird so lange diskutiert, bis alle mit einem Entscheid leben können. Einige Besetzer*innen betonen, dass dieses System nur funktionieren kann, wenn sich alle Zeit nehmen. Einerseits müssen Strukturen geschaffen werden, damit informelle Hierarchien überwunden werden können. Es sollen nicht nur diejenigen den Ton angeben, die am lautesten sprechen, am meisten Freund*innen haben und schon am längsten mit dabei sind, sondern auch Introvertierte und Leute, die neu im Haus sind. Andererseits muss die Bereitschaft gross sein, bis am Ende zu diskutieren und nicht die Entscheidungen denen zu überlassen, die am meisten Sitzleder haben. Gerade wenn von Aussen – zum Beispiel von den Medien oder der Politik – Druck kommt, sich schnell zu entscheiden, müssen Besetzer*innen Geduld und einen starken Durchhaltewillen zeigen.

Basisdemokratische Systeme gelten heute weniger exotisch als in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Viele Betriebe in der Privatwirtschaft setzen vermehrt auf mehr Mitsprache und weniger Hierarchie. Sowieso hat vieles, was in autonomen Zentren und besetzten Häusern entwickelt wurde, die Stadtpolitik erreicht. Die Bevölkerung wird von der Stadtverwaltung aufgerufen, mit zu entscheiden, statt dass sie einigen technokratischen Beamt*innen die Stadtplanung überlässt. Viele soziale Bewegungen sind entweder in autonomen Zentren entstanden oder haben dort ein Dach über dem Kopf gefunden. Die Arbeit auf der Strasse mit Süchtigen oder das Zurverfügungstellen von Fixer*innen-Stuben entstand oft in selbstverwalteten Häusern, die der staatlichen Drogenarbeit kritisch gegenüber stand. Wichtige Impulse sowohl für die Stadtpolitik als auch für die lokale Kulturszene sind besetzten Häusern zu verdanken. Es gibt aber auch ein Kehrseite. Einige Stadtviertel wurden mitunter auch dank den attraktiven autonomen Kulturzentren zu Trendquartieren. In vielen Städten werden solche Zentren für das Stadtmarketing gebraucht. Es ist «cool», wenn eine Stadt einen berühmten «Squat» hat. Es ist umstritten, inwiefern besetzte Häuser, die aus dem Kampf gegen die Boden- und Immobilienspekulation entstanden sind, längerfristig selber zur Gentrifzierung beigetragen haben. Allerdings ist auch klar, hätten Besetzer*innen gewisse Industriebrachen nicht rechtzeitig besetzt, wären diese Freiräume heute rein kommerziell verwertete Orte. Viele langjährige Besetzer*innen sind einerseits stolz auf das, was sie erreicht haben, andererseits auch selbstkritisch.

In zahlreichen Medien werden autonome Zentren und besetzte Häuser als Horte von linksextremer Gewalt beschrieben und als Bedrohung dargestellt. Oder sie werden gelobt für das alternative Kulturangebot und das billige Bier. Das Projekt «Squatopia» zeigt auf, dass mehr dahinter steckt: Autonome Zentren, die in den letzten Jahrzehnten aus Hausbesetzungen entstanden sind, konnten sich als Alternative zum neoliberalen, profitorientierten Wirtschaftssystem etablieren. Diese Häuser beweisen, dass gemeinschaftliches Bewirtschaften von urbanen Brachen Freiräume für die ganze Bevölkerung schafft. Sie haben das Recht auf Stadt, also den Anspruch auf einen für alle zugänglichen urbanen Raum, vielerorts erfolgreich erstritten. Unbestritten ist bei allen Menschen, die einst aktiv waren oder noch immer in einem autonomen Zentrum aktiv sind, dass diese Häuser für sie eine wichtige Schule waren oder noch immer sind. Nicht alle Utopien konnten sie verwirklichen, doch nur schon der Versuch, es zu tun, ist ihnen viel wert. Ebenso unbestritten ist, der Kampf für Freiräume ist noch lange nicht beendet und muss regelmässig von neuen Generationen wieder aufgenommen werden.