Die Compagnie ist kein Selbstbedienungsladen

von Christoph Reichenau 17. Oktober 2017

Sie ist angetreten, den Tanz in Konzert Theater Bern (KTB) zu stärken. Wie? Was hat sie erreicht? Was plant sie weiter? Gespräch mit Estefania Miranda, seit 2013 Direktorin Tanz und Mitglied der Geschäftsleitung KTB.

Als 2010/2011 die Genossenschaft Stadttheater Bern und die Stiftung Symphonieorchester zur Stiftung Konzert Theater Bern zusammengeschmiedet worden sind, stand das Ballettensemble auf der Abschussliste.

Es sei zu klein für die künstlerischen Ansprüche. Besser löse man es auf und stelle auf Gastspiele um. Zu überlegen sei auch die Gründung eines nationalen Balletts aus den kleineren bestehenden Kompanien. Die Vernunft setzte sich gegen das rein rechnerische Denken durch; Erziehungsdirektor Bernhard Pulver fand einen Weg, dass in Bern Tanz nicht nur gezeigt, sondern auch produziert wird.

Das liegt lange zurück. Heute scheint alles in Butter. Wie sieht das Tanzdirektorin Estefania Miranda und was hat sie dafür unternommen? Ein Gespräch zeigt drei wesentliche Elemente für den Erfolg auf: die «innere» Stärkung des Ensembles, seine «äussere» Freiheit im Rahmen von KTB und die gezielte Pflege des Tanzes durch KTB. Wie kam das?

Den Tanz stärken

Estefania Miranda kam auf Stephan Märkis Wunsch 2013 von Weimar nach Bern. Als Tanzdirektorin wollte und will Miranda den Tanz innerhalb von KTB stärken, indem sie Strukturen festigt, das Zeitgenössische pflegt und ausbaut – deshalb hat sie das Ensemble von «Bern:Ballett» zu «Tanzcompagnie KTB» umgetauft, was passender ist – und endgültig die Frage obsolet werden lässt, ob es hier auch ohne Tanz ginge.

Wie beurteilt Estefania Miranda die damalige Idee, anstelle der Weiterführung der Berner Kompanie mit anderen Ensembles zusammen ein grosses Schweizer Tanzensemble zu schaffen? Sie hätte es sehr schade gefunden. Eine grosse Truppe litte unter auch räumlich begrenzten Auftrittsmöglichkeiten. Sie entspräche keineswegs der Vielfalt des hiesigen Tanzschaffens und könnte dem Publikumsinteresse nie gerecht werden. In Bern sei heute die Auslastung der Tanzvorstellungen hoch (99% bei «Requiem», 97% bei «Callas»).

Noch etwas sei heute anders. Es gebe mehr als zuvor regelmässige Treffen der Tanzdirektorinnen und –direktoren an Schweizer Häusern. Gemeinsam würde man sich gegen Abbaupläne zur Wehr setzen. Als etwa 2015 in Luzern der Wechsel in der Intendanz bevorstand und eine Zeitlang unklar war, ob das Ballett weiterbestehe, fieberte sie von Bern aus mit. Zum Glück sprach sich dann Benedikt von Peter klar für die Beibehaltung der Sparte Tanz unter der bisherigen Leitung von Kathleen McNurney aus.

Die Tänzer/innen stärken

A propos Stärkung des Tanzes: Auf die laufende Spielzeit hin erreichte Estefania Miranda eine Erhöhung der Löhne um einige Prozent, auf die Spielzeit 2018/2019 sollen sie nochmals steigen. Die Eleven erhalten neu ein kleines Gehalt, das bald auch erhöht werden soll. Nach Jahren der Stagnation war die Zeit reif. Im schweizerischen Vergleich mit den fünf andern festen Ensembles, unter Einschluss des Béjart Balletts, soll Bern nun gut dastehen. In Bern verdienen alle den gleichen Lohn, abgestuft nur nach den Dienstjahren.

Seit 2016 gibt es eine umfassende Betreuung der Tänzerinnen und Tänzer durch Applied Health Care. Sie umfasst spezifische Tanzmedizin, Physiotherapie, Stressabbau, Ernährungsberatung, individuelle Unterstützung in der Körperarbeit und unter psychologisch-emotionalen Aspekten. Bei Unfällen wird die Rehabilitation massgeschneidert; dies beschleunigt die Erholung und stabilisiert die Betroffenen. Die beigezogene Firma von Nicolai Loboda betreut auch andere Hochleistungssportler. Sie kann zu jeder Tänzerin und jedem Tänzer ein persönliches Verhältnis aufbauen und bietet Kontinuität. Der Aufwand von rund 18’000 Franken pro Jahr lohnt sich; er führt zu einer Verbesserung der ganzen Arbeitsatmosphäre.

Umschulung unterstützen

Kommt eine Tänzerin, ein Tänzer ab etwa 35 Jahren ins Alter, in dem der Körper nicht mehr alles mitmacht, bietet KTB neu Unterstützung bei der Standortbestimmung und je nach Situation bei einer Umschulung und Weiterbildung. Dafür wurde ein Fonds eingerichtet mit derzeit 40’000 Franken; jedes Jahr sollen 40’000 hinzukommen.

Das interne Reglement von KTB hält fest: «Da die Tanzausbildung oft sehr jung begonnen wird, besteht meist auch kein Erstberuf auf den zurückgegriffen werden kann. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dieser Neuorientierungsprozess für einige Betroffene eine grosse Herausforderung darstellt. Nicht zuletzt spielen auch finanzielle Fragen eine zentrale Rolle. Verschärft wird die Situation in vielen Fällen dadurch, dass sich Tänzerinnen/Tänzer aufgrund ihrer Engagements viele Jahre lang fern ihrem Heimatland aufgehalten haben und damit ein tragfähiges Netzwerk, dass auch finanzielle Engpässe abfedern könnte, gänzlich fehlt.»

Die Tänzerin oder der Tänzer stellt ein Dossier mit Budget zusammen. Die Tanzdirektorin spricht eine Empfehlung aus. Ein Ausschuss prüft und befindet; ablehnende Entscheide sind schriftlich zu begründen. Voraussetzung für die Unterstützung ist ein vierjähriges Engagement in Bern (die Tänzer der Compagnie bleiben in der Regel 3 bis 4 Jahre hier). Der Beitrag von KTB – maximal 40’000 Franken pro Person – ist komplementär zu den Leistungen privater Organisationen, wie dem Berufsverband Danse Suisse, der Stiftung für die Umschulung von darstellenden Künstler/innen und der Association pour la reconversion des danseurs professionnels. Erster unterstützter Tänzer ist der 39-jährige Yu-Min Yang.

Eine Kompanie älterer Tänzer/innen?

Auch wenn sich etwa ab dem 35. Altersjahr die Frage einer Standortbestimmung und Umschulung stellt – ältere Künstlerinnen und Künstler können sehr wohl weiter tanzen. Estefania Miranda schwebt vor, eine Kompanie für ältere Tänzerinnen und Tänzer zu bilden, wie das ehemalige Nederlands Dans Theater 3. Choreograph/innen könnten eigens Werke schaffen. Eine solche Kompanie müsste gesamtschweizerisch sein. So gesehen hätte die an sich nicht überzeugende Idee eines nationalen Tanzensembles einiges für sich.

Für zeitgenössischen Tanz ist die Berner Kompanie mit 13 festen Mitgliedern und 6 Eleven gross genug. Die Eleven haben Verträge für ein Jahr. In dieser Zeit werden sie für zwei Produktionen als Erstbesetzung gecastet und haben das Recht, andernorts für ein festes Engagement vortanzen zu gehen (Auditions). Die Eleven kamen bisher in erster Linie aus holländischen Tanzschulen, deren Qualität und stilistische Ausrichtung gut zu Bern passt. In dieser Spielzeit wurde ein Eleve aus dem Bachelor-Studiengang der Zürcher Hochschule der Künste aufgenommen, den der Schweizer Samuel Würsten leitet, der auch der Tanzhochschule Codarts Rotterdam vorsteht.

Vielfältige Erfahrungen ermöglichen

Künstlerisch will Estefania Miranda den Tänzerinnen und Tänzern ihrer Kompanie möglichst viel Raum schaffen für deren künstlerische Arbeit. Sie führt Cathy Marstons Weg weiter, den auch Kathleen McNurney in Luzern geht: Die Zusammenarbeit mit vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten. Entsprechend sieht sich Miranda nicht primär als Choreografin, sondern als Ermöglicherin. Dazu gehören Partnerschaften mit anderen Choreographen. Diese kreieren allerdings in Bern nicht immer neu, sondern studieren manchmal ältere Werke neu ein. So war es zu Beginn ihrer Amtszeit Nanine Linning, die mit dem Tanztheater «Zero» das Publikum gewann und 2014 für «Requiem» einen Schweizer Tanzpreis errang. Und so kommt es diese Saison zu Partnerschaften mit grossen Namen, beispielsweise mit Sidi Larbi Cherkaoui und Etienne Béchard.

Wichtig ist es Estefania Miranda, in Bern erarbeitete Produktionen vermehrt auch andernorts zeigen zu können, in der Schweiz und in Europa. Das stellt hohe Anforderungen zeitlich (wann kann man reisen?), aber auch finanziell, da Tourneen durch den Leistungsvertrag eigentlich nicht gedeckt sind.

Produktionen, die auf Künstler- oder Wissenschafter-Persönlichkeiten eingehen, wie «Callas» (2016) oder «Einstein» (2017), bei Cathy Marston früher «Schumann», geben Choreografen sowie Tänzerinnen und Tänzern eigenen kreativen Freiraum. Sie will diesen Weg mit «Einstein» weitergehen.

Die Verteilung der drei grossen Tanzproduktionen im Jahr auf das grosse Haus am Kornhausplatz und die Vidmarhallen stimmt aus ihrer Sicht. Es sei toll, Ende Oktober mit «Sacre/Faun/Boléro» auf der fertig renovierten Bühne in die neue Saison starten zu können. Drei Produktionen seien das Maximum für die Kompanie, die Infrastruktur, das Budget und das Mini-Produktionsteam (3 Personen).

Hinzu kommen noch das Festival Tanzplattform Bern und die Uraufführung der Gewinnerin/des Gewinners des Berner Tanzpreises. Als Surplus gibt das Nederlands Dans Theater 2 ein Gastspiel im Rahmen des Festivals Steps des Migros-Kulturprozent. Und diskutiert werden erste Ideen für eine Kooperation mit der Dampfzentrale noch in der laufenden Saison.

Tanz vermitteln

Wichtig ist Estefania Miranda die Vermittlung mit offenen Proben und Einführungen für Schulen. Die offenen Proben (die nächste findet am 19. Oktober um 18 Uhr statt) – weniger als vor 2013 – sind begehrt von Interessierten jeden Alters; auch kleine Kinder werden mitgenommen. In Bern hat der Tanz das gemischteste Publikum der vier Sparten (einschliesslich Konzerte). Nicht in jeder Spielzeit ist eine zusätzliche Produktion unter Einbezug von Jugendlichen möglich wie 2014 die «Gaza-Monologe» mit Marcel Leemann. Aufgebaut wird derzeit aber ein Tanz-Jugendklub. Und Kontakt besteht mit der Bern New Dance Academy für Tanz-Workshops für Schulen.

Teil der Vermittlung sein könnte es, Tanzfilme zu zeigen und im Anschluss an die Projektion mit dem Publikum darüber zu diskutieren. Populäre Beispiele gibt es viele, von «Billy Elliot», über «Black Swan» zu «Mr. Gaga» oder «Dancing Beethoven», nicht zu reden von «Dirty Dancing». Oder von Steve Walkers Film «Buebe gö z’Tanz» 2012 über die Koproduktion der Kummerbuben mit der damaligen Tanzcompagnie von Cathy Marston. Miranda ist nicht abgeneigt, aber die Ressourcen sind knapp.

Überzeugung, nicht Verpflichtung

Estefania Miranda arbeitet gern in Bern, auch weil der Tanz durch die Geschäftsordnung der Stiftung KTB dem Musiktheater und dem Schauspiel gleich gestellt worden ist. Die Kompanie ist nicht mehr ein Selbstbedienungsladen für Auftritte in Opern und Musicals. Tänzerinnen und Tänzer seien nicht wie in anderen Häusern verpflichtet, in Opernaufführungen zu tanzen. Wenn sie es täten, dann aus Überzeugung.