Die Entdeckung der jenischen Musikkultur

von Fredi Lerch 2. Februar 2017

Kinostart von «unerhört jenisch», dem Dokumentarfilm von Karoline Arn und Martina Rieder, im Kino REX: ein berührender Blick auf die Identität einer verfolgten Minderheit. – Gespräch mit der Co-Regisseurin Karoline Arn (Teil 1).

Im Zentrum des Dokumentarfilms «unerhört jenisch» (Trailer hier) stehen die Bündner Familien Moser, Waser und Kollegger und die Musikkapellen, in denen viele Familienmitglieder mitspielen. Durch den Film begleiten zudem die Brüder Stephan und Erich Eicher – der eine als Musiker international berühmt, der andere Anwalt und Schwyzerörgerli-Spieler und beide auf der Suche nach ihren jenischen Wurzeln.

Der Film unterhält mit schwungvollen Musikvorträgen auf Bühnen, in Küchen und unter freiem Himmel. Er berührt durch die Spontaneität vieler Szenen, die auch darauf verweisen, dass alle, die mitmachten, auf gleicher Augenhöhe mitreden konnten. Und der Film hat Tiefgang, weil er mit präzisen Hinweisen so unaufdringlich wie unmissverständlich klar macht, worum es hier auch geht: um die prekäre und umkämpfte kulturelle Identität einer schweizerischen Minderheit, an deren physischer und psychischer Zerstörung die Schweiz der Sesshaften bis in die 1970er Jahre aktiv gearbeitet hat.

Journal B sprach mit der Co-Regisseurin Karoline Arn. Sie ist Historikerin, Autorin und Redaktorin bei Radio SRF.

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Journal B: Karoline Arn, Ihr Film «unerhört jenisch» wurde zuerst an den Solothurner Filmtagen gezeigt und von den Medien lebhaft besprochen. Sind Sie zufrieden? Oder gab es Missverständnisse?

Karoline Arn: Ich bin erstaunt, dass die Leute den Film begriffen und gemerkt haben, worum es uns geht. Eigentlich haben wir ja Verschiedenes gemacht, das man in einem solchen Film nicht machen sollte: Es gibt eigentlich zu viele Protagonisten und zu viele Geschichten.

Thema des Films ist die Musik als ein Pfeiler jener jenischen Identität, die bis in die 1970er Jahre von der offiziellen Schweiz aktiv bekämpft worden ist. In der BZ-Rezension zum Film las ich den Satzteil: «Es sind ursprünglich jenische Familien…» und wurde durch das «ursprünglich» verunsichert. Ist das neuerdings die politisch korrekte Sprachregelung? Sind Jenische nicht mehr Jenische?

Das kommt darauf an, wie es die Leute selber sehen. Die einen sagen tatsächlich: Wir sind Jenische. Die zweiten sagen: Wir stammen von den Jenischen ab. Und dritte sagen: «Jenisch», das ist ein Schimpfwort, davon rede ich nicht, und ich will auch nicht so bezeichnet werden.

Historisch gesehen geht die Zuschreibung auf die jenische Sprache zurück. Es ist eine Bevölkerungsgruppe, die sich gebildet hat aus herumgetriebenen «Heimatlosen» und aus dem benachbarten Ausland zugewanderten Familien. Diejenigen «Jenischen», die sich als «Heimatlose» Anfang der 1850er Jahre auf dem Gebiet des Bundesstaats Schweiz aufgehalten haben, wurden aufgrund eines Bundesgesetzes zwangsweise in jenen Gemeinden eingebürgert, in der sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befanden, andere haben sich schon vorher um eine Einbürgerung beworben.

Woher kamen diese herumziehenden Leute? Stammen sie von verarmten Sesshaften ab?

Nicht von Verarmten, sondern von Familien, die aus welchem Grund auch immer ihr Heimatrecht verloren hatten. Einige haben die fahrende Lebensweise beibehalten, andere haben sich – wenn es ihnen möglich war – niedergelassen und gingen dann als Störhandwerker auf Wanderschaft. Nehmen wir die Familie der Moser aus Obervaz, die legendäre Glockengiesser waren und von Bauernhof zu Bauernhof auf Stör gingen. Noch heute haben Moser-Glocken Sammlerwert, weil sie mit ein bisschen Silber in die Metalllegierung einen besonderen, «silberhellen» Klang haben. Das einheitliche Merkmal aller Jenischen ist das: Sie waren keine Einheimischen, keine «Bauern», wie die Jenischen die Sesshaften bezeichnen. In den Städten waren Handwerker in Zünften organisiert, die wollten keine Konkurrenz und vertrieben zugezogene Handwerker. Und auf dem Land musste man für jeden Auftrag von Ort zu Ort reisen. Deshalb Zuschreibungen wie «Vaganten» [von vaguer = wandern, fl.], «Heimatlose» oder eben «Jenische». Sie waren stets die Fremden, auch wegen spezieller kultureller Eigenheiten, zum Beispiel wegen ihren musikalischen Talenten.

Diese Musikalität steht nun im Zentrum des Films: Ist es tatsächlich so, dass die Musik in der jenischen Kultur diese zentrale Bedeutung hat? Auch die Schriftstellerin Mariella Mehr oder der Kunstmaler Walter Wegmüller sind ja Jenische. Warum die Musik?

Als wir zum ersten Mal mit Stephan Eicher redeten, wussten wir noch nicht, dass die Musik im Zentrum des Films stehen würde. Für die Recherche gab es zuerst mehrere interessierende Brennpunkte. Schon bei unserem letzten Film, «Jung und jenisch» (2014), stellten wir fest, dass Jenische eine eigene Kultur pflegen, die über das Fahren hinausgeht. Zum Beispiel ist die mündliche Tradierung sehr ausgeprägt:  Die schriftliche Sprache ist nicht wichtig, da ist Mariella Mehr eine Ausnahme. Es gibt auch keine geschriebenen Noten, die Stücke werden vor- und nachgespielt und so von Generation zu Generation weitergegeben.

Eine andere Eigenheit ist die spezielle Intuition. Wir gingen zu den Leuten jeweils mit schönen Konzepten über unser Projekt. Vorstellen konnten wir sie nirgends. Man wollte gar nicht wissen, was wir sagten, sondern eher hören, wie wir es sagten. Man hat uns zugehört, uns angeschaut und dann ja oder nein gesagt.

Argumente spielten keine Rolle?

Überhaupt nicht, nein. Die Wahrnehmung ist auf etwas anderes geschärft. Ob sie Menschen trauen können oder nicht, hat für sie nichts mit dem zu tun, was diese erzählen. Sie testen dich anders.

Eine weitere Besonderheit ist das komplexe Denken. Bei uns «Bauern» geht man davon, dass komplexes, vielschichtiges Denken mit Bildung, mit Leseerfahrung zu tun hat. Bei den Jenischen ist das anders: Obwohl viele von ihnen keine klassische Ausbildung durchlaufen haben, denken sie immer in komplexen Zusammenhängen und stellen diese immer in ein Ganzes. Geht es um ein konkretes Problem, versuchen sie in der Diskussion, sich sämtlicher Eventualitäten bewusst zu sein. Wir sind einer sehr schnellen, sehr reflektierten Art der Weltwahrnehmung begegnet, wie sie heute zum Beispiel als Managementfähigkeit gerühmt wird.