Er empfand seine Werke als nicht so wichtig

von Christoph Reichenau 26. November 2015

2011 ist Norbert Klassen 70-jährig gestorben. Das Werk des Wahlberners umfasst Theaterprojekte, bildende und Performencekunst. Jetzt erscheint ein Buch über ihn. – Ein Gespräch mit Beate Engel, die Klassen gut gekannt hat.

Journal B:

Wann hast Du Norbert Klassen zum ersten Mal getroffen?

Beate Engel:

Ich begegnete ihm in den 1990er Jahren bei einer Aufführung in der damaligen Schauspielschule Bern, wo er arbeitete. Der imposante Mann mit dem wehenden Milani-Mantel beeindruckte mich. Wirklich kennen lernte ich ihn bald darauf, 1997. Klassen war gekündigt worden; seine freie Auffassung der Theaterausbildung deckte sich nicht mehr mit jener der Leitung. Für ein Kulturmagazin interviewte ich ihn in seiner Wohnung an der Laubeggstrasse. Dort sah ich zum ersten Mal ein Kunstwerk von Norbert Klassen: einen grossen geöffneten Folianten auf dem Balkontisch, der aus leeren weissen Blättern bestand, die vom Wind hin und her geblättert und nicht vom Künstler, sondern von Sonne und Regen bearbeitet wurden. Alle Zimmer in seiner Wohnung waren minimalistisch eingerichtet und sehr aufgeräumt, doch eines war angefüllt mit einem Sammelsurium von Objekten, Stöcken, Glühbirnen, Vasen, gefüllten Plastiktüten, Bergen von Papier. Seine Kunst schöpfte sich sowohl aus der Leere wie aus dem Chaos.

Und später?

Dann traf ich ihn immer wieder – und irgendwann waren wir Freunde. Ohne Anstellung residierte er an den verschiedensten Orten, zum Beispiel Kuchen essend unter den Lauben vor einem Keramikladen in der Altstadt, den er hütete. Er war Anlaufstelle, Ruhepol, Berater, ein offener Mensch, der zuhören konnte. Es war die Endphase der Berner Performancebewegung, die mit den Theaterkollektiven Studio am Montag und STOP.P.T begonnen hatte. Die Underground-Szene zog Menschen an, die mehr suchten als das künstliche, inszenierte Theater, die das reale Leben mit der Kunst verbinden wollten.

Dann kam der PROGR…

1999 übernahm ich die Leitung der Stadtgalerie, 2004 jene des Zentrums für Kunstproduktion PROGR, eines temporären Atelierhauses mit Kulturprogramm, zu dem die Stadt das ehemalige Progymnasium umfunktioniert hatte. In eines der Ateliers zog Norbert Klassen ein und mit ihm seine Objekte-Sammlung, zu der auch unzählige afrikanische Masken gehörten, die eine ganze Wand einnahmen. Norbert hielt dort einen Salon mit offener Tür, bequemen Ledersesseln und einem Glastisch mit ständig vollem Aschenbecher. Das war seine Performance-Lebenskulisse.

Im und aus dem PROGR heraus entwickelte Norbert Klassen mehrere Projekte und Veranstaltungen, zum Beispiel die Leserunde «Für all die Wenigen»,wo Schauspieler, Musiker und Performer wie Eva Fuhrer, Manuela Trapp oder Peter Jecklin auftraten. Vom Schiller-Gedicht bis zur Schrankzertrümmerung war dort alles möglich. Mit 65 war er immer noch am Suchen. Er wirkte an hausinternen Events mit, gestaltete Weihnachtsausstellungen, Auktionen, lud junge Künstler auch aus dem Ausland zu «PPP», der PROGR Performance Plattform, ein. Er nahm sich den Freiraum, den der PROGR bot, und kämpfte auf seine Art für dessen Erhalt.

Wie war das mit dem BONE-Festival?

Das jährliche Performance-Festival BONE hat Norbert Klassen 1998 erstmals zusammen mit Ralf Samens und ab 2000 in Ko-Leitung mit Markus Hensler und später Peter Zumstein durchgeführt. Auch in seiner PROGR-Zeit führte Klassen es weiter. BONE, zu dem auch der Einbezug des internationalen Performance- Kollektivs Black Market International gehörte, lag ein geniales Konzept der Netzwerkarbeit zugrunde. Klassen reiste durch die Welt, merkte, wo es funkte; die Funken holte er nach Bern. Wegen ihm kamen aus dem In- und Ausland Performerinnen und Performer hierher, blieben eine Woche, traten auf und tauschten sich aus. In der internationalen Performance-Szene war Klassen eine Kapazität und ein grosser Netzwerker. Er war das Gesicht von BONE, er führte das Festival auf seine Art und liess den Künstlern grosse Freiheit. Dabei bediente er keine Erwartungen des Publikums. Er bot keine perfekten Vorführungen. Er setzte Offenheit voraus und die Bereitschaft, sich auf das einzulassen, was – je nachdem quälend langsam – ablief, auch wenn wenig geschah, Geduld war gefordert, die wache Aufmerksamkeit für Nuancen. Viele Performances erschlossen sich nicht rasch, blieben vielleicht bis zuletzt unklar, «ungelöst». Sie zeigten das Leben unmittelbar und doch, da als Kunst, gebrochen, so real wie möglich und gelegentlich noch etwas mehr ermöglichend.

Wie schaffte er das?

Klassen lebte bescheiden. BONE hatte eine kleine Subvention der Stadt und des Kantons Bern. Aber BONE, das waren auch seine Freundinnen, Freunde, Weggefährten: Janet Haufler, Eva Fuhrer, Gerhard J. Lischka, Peter Zumstein, Ralf Samens, Urs Peter Schneider, Manuela Trapp, Boris Nieslony, die Mitglieder aus der Gruppe «Black Market International» und viele andere, die sich engagierten.  

Wie wichtig war Norbert Klassen für die Performancekunst?

In Bern verkörperte Klassen zusammen mit seinen Weggefährten die Nachhut der in den 1960er Jahren entstandenen Fluxus-Bewegung – John Cage, Yoko Ono, Ben Vautier und andere –, die an Stelle des geronnenen Kunstwerks den schöpferischen Gedanken und den kreativen Prozess in den Mittelpunkt stellte. Eigentlich war er erst relativ spät zur Performancekunst gekommen, hatte sich in den Achtzigern von der herkömmlichen Schauspielkunst abgewandt. In vielem war er ein Epigone, ein Bewunderer von Erneuerern wie John Cage oder Samuel Beckett und hatte damit auch kein Problem. Performances wie diejenigen von Marina Abramović, körperlich hart, ja körperverletzend und schonungslos gegenüber sich selbst, faszinierten ihn, aber solch einen Starkult, wie ihn Marina Abramović heute pflegt, die in Institutionen wie dem MOMA in New York auftritt, hat er nie angestrebt. Selber wollte und konnte er nicht so arbeiten. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass seine Werke ihm nicht besonders wichtig waren, wichtiger war der Prozess. Und vor allem: Er wollte in «alltäglichen» Räumen, unter den Menschen etwas bewirken, nicht im Museum.

Was bleibt?

Filme, Tanz- und Theaterstücke und auch Kunstausstellungen sind heute performativer, provisorischer, unmittelbarer, offener für das Gegenwärtige, das Nicht-Abgeschlossene und auch für die unmittelbare Selbst-Reflexion. Ein Beispiel dafür ist das «Theater der Peinlichkeiten» des jungen Schauspielers Stephan Stock 2014/2015 in der Gessnerallee Zürich.

Norbert Klassen stand für eine andere Zeit, in der es weniger um die theoretische Aufarbeitung und Einbettung und auch Vermarktung der Performance-Sparte ging. Mittlerweile bestehen institutionelle Strukturen und Fördermechanismen, es gibt einen schweizerischen Performancepreis, man kann Performance an der Hochschule studieren.

Das Festival BONE hat nun nach der Ära Klassen mit Valerian Maly einen hervorragenden neuen Leiter und Vernetzer gefunden, der interessanterweise in der aktuellen BONE-Ausgabe die Frage stellt: Was machen wir nun mit dieser experimentellen Kunstform, wenn sie nicht mehr experimentell ist?

Was fehlt nach seinem Tod?

Das Norbert Klassen-Atelier im PROGR sollte ursprünglich ihm zu Gedenken erhalten bleiben und PerformerInnen aus dem Ausland als Residenz dienen. Leider wurde das Stipendium der Abteilung Kulturelles eingestellt, eine vergebene Chance für die internationale Vernetzung.

Norbert Klassen war für viele eine Art Vater und ein Freund; er hatte die Naivität eines Kindes behalten so wie er Geschehnisse verarbeitete, sich aufregte, sich einsetzte. Zugleich war er Zuhörer, Ratgeber, weiser Älterer. Er holte die unterschiedlichsten Menschen in sein Atelier und in den PROGR, er betreute junge Schauspielschüler, denen er nicht selten vom Beruf auf der Bühne abriet und denen er Fragen stellte, die auch weh tun konnten. Dies alles fehlt.

Eine der für mich beeindruckendsten Arbeiten von Norbert war die Fortsetzung seines Langzeitprojekts «Menschen» im Berner Offspace Marks Blond 2009. Er lebte mehrere Tage lang in der Fenstergalerie und empfing Besucher, umgeben mit Fotografien von Menschen, die er grösstenteils gar nicht kannte, deren Bilder er auf Flohmärkten und in Antiquariaten gefunden hatte. Sie waren ihm ein wichtiges Gegenüber, so wie die afrikanischen Masken in seinem Atelier im PROGR. Klassen brauchte den – auch stummen – Dialog mit anderen Menschen, realen und imaginierten. Zu diesem Dialog fordern seine Performance-Relikte und Installationen auch nach seinem Tod weiterhin auf.