Magie eines Depots

von Christoph Reichenau 29. August 2015

Ein Tanzstück. Eine Ortsbesichtigung. Ein zauberhafter Moment. Eine Möglichkeit, sich selbst stärker zu erleben. – Die tänzerische Erkundung «Tabula rasa» der Choreografin Anna Huber im Tramdepot Burgernziel bietet all dies.

Wenn die Aufführung beginnt, ist der Sommerabend noch hell. Am Ende ist es draussen dunkel, die Leute stehen grüppchenweise auf Lichtinseln zusammen. Während der Vorstellung hatte man das Eindämmern miterleben können. In einem Raum, wie es in Bern keinen zweiten gibt: Im alten Tramdepot am Burgernziel, Turnhallengrösse, auf zwei Seiten hohe Fenster, ein schwingender Holzboden, Oberlichter.

Eine Tänzerin, ein Tänzer, zwei Musiker. Einzeln betreten sie den Raum am Rand, spielen Cello, schwingen sich durch ein Fenster herein, klopfen die Glasscheiben und Wände aussen und innen ab, durchmessen, rhythmisieren, transzendieren die Halle. Der Takt der Füsse lässt den Boden tönen wie ein Instrument.

Dann verschieben sich die Zuschauer, Zuhörer, Mitentdecker an die Schmalseite und blicken längsseitig in die Tiefe des Raums. Nach und nach finden die Tänzerin und der Tänzer in spröden, kurzen pas de deux zusammen, trennen sich wieder, vereinen sich erneut. In einem berührenden Augenblick liegen sie – durch das Sitzbrett einer Bank getrennt – beieinander, ganz nah, ganz fern, ein schmales Zusammen im riesigen, mittlerweile fast dunklen Raum, dessen Ränder in der Dämmerung verschwinden, die durch die Fenster fliesst. Draussen wabert Nebel; grünes Licht dringt aus ihm wie das magische Auge des alten Röhrenradios. Die Körper verformen sich stärker, Anstrengung wird spürbar, Trommeln treiben die Tanzenden an. Im Augenblick, da die Distanz unter den vier Personen am grössten ist, formieren sie sich zu einer Reihe, schreiten auf uns zu, streifen ihre Rolle ab und lassen den Raum zurück – riesig, geheimnisvoll. Draussen ist es dunkel geworden.

Die Performance von Anna Huber und Chris Lecher (Tanz), Martin Schütz (Cello) und Julian Sartorius (Percussion) hat hundert Lesarten. Ich lese sie als Hommage an einen dem Abbruch geweihten Ort, der dank seiner Geschichte, seiner Architektur und seiner Lage in einer temporären Stadtbrache ein idealer Kulturort mit grosser Ausstrahlung und genügender Neutralität ist. Der die Kunst stärkt, nicht überbietet.

Die Vorstellung lässt unseren Gedanken Raum. Für mich wird das alte Tramdepot zum Sinnbild der Schweiz, deren Grenzen abgeklopft werden, durch die andere Menschen zu uns kommen, die vorsichtig, suchend das Land erkunden, neu vermessen, provisorisch neu herrichten. Ein ganz natürlicher Vorgang, den nichts und niemand aufhalten kann. Und ich denke beim Zuschauen und Sinnieren wie ungeheuerlich und weltfremd Vorstellungen wie die des Solothurner Stadtpräsidenten und Kulturfreunds Kurt Fluri sind, der mit UNO-Mandat und Blauhelmen Flüchtlinge in Nordafrika mit Waffengewalt bewachen lassen möchte.

Soviel Initiative, schöpferische Energie und organisatorischer Krampf für lediglich zwei Aufführungen an einem wundersamen Ort, dessen Tage leider gezählt sind. Schade. Aber freuen wir uns, dass dies möglich gemacht worden ist.