Geschichten von Verdingkinder-Kindern

von Fredi Lerch 25. März 2015

«Auf der Suche nach der eigenen Geschichte»: Im Kornhausforum zeigt das Stadtarchiv Bern, was möglich wird, wenn sich ein Archiv ein bisschen weniger als Papier-Endlager, dafür mehr als Vermittlungsinstanz versteht.

Im Kornhausforum geht es nicht um die Sensation der schlimmsten Verdingkinder-Geschichte (die bleibt vorderhand weitherum die Geschichte von Päuli Zürcher). Hier geht es um zwei ganz gewöhnliche Verdingkinder-Schicksale.

Trotzdem zeigt die Ausstellung des Stadtarchivs Bern Aussergewöhnliches: Unter dem Titel «Auf der Suche nach der eigenen Geschichte» werden zwei Verdingbuben-Schicksale aus drei verschiedenen Blickwinkeln gezeigt, von denen man kaum je alle drei gleichzeitig kennen kann: aus der Sicht der amtlichen Akten, aus der Sicht privater Dokumente und Gegenstände und aus der Oral History-Perspektive, die dank Videoaufnahmen mit je einer Tochter der beiden Verdingbuben dokumentiert wird.

Soziale Wirklichkeit der 1940er-Jahre

Das sind die beiden Geschichten: «Fritz Fischer» (* 1941) ist der Sohn eines tuberkulosekranken Bauarbeiters im Lorrainequartier. Nach dem Tod des Vaters 1944 kämpft seine Mutter mit Heimarbeit und als Taglöhnerin um ihre Kinder, bis sie, krank und mangelernährt, ins Spital kommt. Als Fritz knapp zehn ist, wird er verdingt. «Urs Müller» (* 1932) kommt 1937 in ein Kinderheim, weil der arbeitlose Vater beim Klauen erwischt wird und ins Gefängnis und die Mutter gleichzeitig krank und schwanger ins Spital kommt. Nachdem er 1941 bis 1944 mit den Eltern in der Riedern nordwestlich von Bümpliz leben durfte, wird er 12jährig bis zur Konfirmation verdingt.

Diese zwei Schicksale lernt man in der Ausstellung in einer Art Innenansicht kennen, die öffentlich weiterhin die Ausnahme bleiben werden:

• Solche Präsentationen sind wegen der überaus heiklen Frage der Persönlichkeitsrechte nur möglich, wenn Familienangehörige – in diesem Fall die beiden Töchter Daniela Jaussi und Liliane Rihs – aktiv an der Ausstellung mitarbeiten und so den Schutz durch Anonymität, soweit sie es für gut befinden, selber aufheben. (Beide lassen ihre Väter unter Pseudonym auftreten.)

• Den anderen Grund nennt die Ausstellungsmacherin Yvonne Pfäffli, die als Archivarin des Berner Stadtarchivs in letzter Zeit oft mit Familienangehörigen arbeitet, die Akten von Vorfahren suchen: «Ein Verdingkinderschicksal in der Familie ist nicht selten ein Tabu. Die Scham, Verdingkind gewesen zu sein, kann verhindern, dass die Erinnerung innerhalb der Familie weitergetragen wird.»

Sowohl Jaussi als auch Rihs sind auf der Suche nach Akten mit Pfäffli in Kontakt gekommen. Dass aus einem solchen administrativen Akt ein Vertrauensverhältnis und schliesslich diese Ausstellung entstehen konnte, ist nicht selbstverständlich.

Schönfärberisches in Wort und Bild

Die Innensicht der beiden Verdingbuben-Fälle wird in der Ausstellung kontrastiert von der Aussensicht jener beider Fotoreporter mit Berner Wurzeln, die die soziale Wirklichkeit von fremdplatzierten Kindern damals dokumentiert haben: Paul Senn (1901-1953) und Walter Studer (1918-1986).

Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums, weist darauf hin, dass die etwas früheren Bilder Senns, die er für die kritische Zeitschrift «Die Nation» machte, den sozialkritischeren Zugang zur Wirklichkeit zeigen als die späteren Studer-Bilder. Jene sind für die «Schweizer Illustrierte» entstanden und haben, so Giger, etwas «Schönfärberisches» – auch weil sie zum Teil als Illustration von propagandistischen Artikeln zugunsten der Heimerziehung und der Adoption verwendet wurden. Interessant ist, dass in den gleichen Jahren für fremdplatzierte Kinder der Begriff des «Pflegekindes» jenen des «Verdingkindes» definitiv verdrängt hat.

Spannend an dieser Ausstellung ist der Effekt, den das Angebot der drei Quellenebenen auf Betrachtende hat. Sie kommen nicht darum herum, die Quellen gegeneinander abzuwägen. Und plötzlich stehen sie vor den gleichen Fragen, die heute so viele Kinder von Verdingkindern umtreibt: Waren meine Vorfahren wirklich an allem selber schuld? Waren sie zu arm oder zu unwissend, um sich gegen die Behörden zu wehren? Oder gibt es Namen von Verantwortlichen; ein bigotter Pfarrer, ein bösartiger Amtsvormund, ein mieser Bauer? Oder sind einfach die anonymen Strukturen der damaligen sozialen Wirklichkeit verantwortlich? Oder war es höhere Gewalt, Schicksal, der liebe Gott? Wie war es wirklich? Was ist die Wahrheit?

Wer im Hinblick auf die am 19. Dezember 2014 eingereichte Wiedergutmachungsinitiative seine Meinungsbildung vorantreiben will, hat zurzeit Gelegenheit, das auf anregende Weise zu tun.