Nur wer die Kunsthalle kennt, weiss, was auf dem Spiel steht

von Fredi Lerch 29. August 2013

Die Jungfreisinnigen fordern die Schliessung der Kunsthalle, weil über 100 Franken als Subvention pro Eintritt nicht vertretbar seien. Als Antwort darauf zeigt die Kunsthalle Virginia Overton und fordert eine moderate Subventionserhöhung.

Die Kunsthalle Bern zeigt seit dem 22. August Werke der US-amerikanischen Künstlerin Virginia Overton, die über ihre Ausstellung sagt: «Ich hoffe, dass man die Arbeiten physisch, aber auch objektiv erlebt. Sie sind, was sie sind: zwischen Boden und Wand geklemmte Holzbretter oder an die Wand gehängte Stücke von echtem Parkett.»

Zu sehen im weiteren: drei stark zerkratzte Spiegel; zwei nebeneinander hängende Blechaffichen mit Hühnerabbildungen und der Aufschrift: «bessere Rendite mit Geflügel Futter»; eine Schwarzweissfoto der Kunsthalle («Untitled»), eine Videoprojektion mit Baumfäll-Sequenzen und im Hauptsaal – über dessen Eingang zur Zeit ein Leuchtkasten mit der Aufschrift «Kunsthalle Bern» hängt – ein mit verschiedenfarbenen Hölzern gezimmerter Boden, der die metallene Gitterstruktur des Oberlichts spiegelt.

Von links und rechts wetterleuchtets

Diese Ausstellung steht ungewollt im Zusammenhang mit der am 7. August veröffentlichten Forderung der Jungfreisinnigen, die Kunsthalle sei «zu schliessen, bzw. umzunutzen» weil «über CHF 100.00 an Subventionen pro zahlendem Eintritt […] nicht vertretbar» seien. Und bereits am 27. Juni hat der «Bund» gemeldet, auch «in der sich weltoffen gebenden SP» sei die Kunsthalle «nicht unumstritten». Demnach ist im Moment eine Ausstellung im Wetterleuchten von rechts und links zu sehen.

In dieser Situation hat Kunsthalle-Direktor Fabrice Stroun einen Tag vor der Overton-Vernissage eine Stellungnahme veröffentlicht, die den Titel trägt: «Wir leisten uns eine Kunsthalle!» Darin betont er, dass zwar die «Besucherzahlen steigen», aber die Vermittlungsarbeit leide unter den knappen Finanzen. Deshalb sei es «unabdingbar», «dass unsere Subventionen [ab 2016, fl.] moderat erhöht werden». Keck, schon fast Kunst.

Spielmarke einer interkontinentalen Kunstelite

Manche meinen, die Kunsthalle sei ein Ausstellungs- und Vermittlungsort für die aktuelle Kunst. Stroun meint, sie sei ein Ort «der Produktion von visueller Kultur» – also quasi das persönliche Atelier des Kurators. Wolf von Weiler, der Präsident des Kunsthalle-Vereins, meint, sie sei ein «Kompetenzzentrum für Gegenwartskunst». Wieder andere meinen, «Kunsthalle Bern» sei ein virtueller Ort, der sich in diesem Sommer mit der Rekonstruktion von Harald Szeemanns Attitüden-Ausstellung von 1969 vorübergehend an der Biennale von Venedig materialisiert habe. Und sicher ist sie eine Spielmarke im selbstreferentiellen Gespräch einer interkontinentalen Kunstelite.

Dass diese Elite interkontinental ist, ergibt sich aus den mehr als 3000 Solidaritätsunterschriften für Strouns Stellungnahme, die seit dem 21. August auf der Kunsthalle-Homepage zusammengekommen sind. Nachdem ich dreimal hundert fortlaufend abgegebene Stimmen ausgezählt habe, schätze ich: Gut zehn Prozent der Stimmen kommen aus Bern inklusive Agglomerationsgemeinden, gut vierzig aus der urbanen Restschweiz; knapp vierzig Prozent aus ganz Europa und weitere knapp zehn aus anderen Kontinenten.

Die Agenda der Kulturpolitik

Diesem Schein weltweiter Solidarität steht die biedere kulturpolitische Agenda von Stadt und Kanton gegenüber, die man in Bogota, New York und Melbourne nicht primär im Auge haben wird: Zwischen Stadt und Kunsthalle besteht noch bis Ende 2015 ein Leistungsvertrag; die Verhandlungen um den Vertrag 2016-2019 beginnen im nächsten Frühling. Bereits in diesem Oktober entscheidet der Regierungsrat über die Kulturförderungsverordnung, die auf 1. Januar 2014 in Kraft tritt. Zur Diskussion stehen hier zwei Varianten, von denen die eine Stadt, Regionsgemeinden und Kanton, die andere nur die Stadt zum Verhandlungspartner der Kunsthalle machen würde. Diese bevorzugt verständlicherweise jene Variante, in der sie bloss mit der vergleichsweise kunstverständigeren Stadt zu verhandeln hätte.

In dieser Situation also signalisieren die städtischen Jungspunde des Freisinns, dass die Kunsthalle zu schliessen sei. Lustig: Über die ersten 95 Jahre gesehen hat das Kunsthalle-Publikum mit grosser Wahrscheinlichkeit sehr viel öfter freisinnig als sozialdemokratisch gewählt. Für bildungsferne Lohnabhängige war die Schwelle der Kunsthalle ungekehrt immer zu hoch – damals, als sie noch SP wählten gleichermassen wie heute, da sie SVP wählen. Die Jungfreisinnigen wollen so gesehen vorab ihrem eigenen, bildungsbürgerlichen Milieu einen öffentlichen Ort der distinktiven Selbstvergewisserung wegnehmen. Und lustig zum zweiten: Das bringt ausgerechnet die Linksgrünen unter Druck, die Kunsthalle politisch zu verteidigen – denen man bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vorhält, sie hätten nie viel von Kunst verstanden und heute verstünden sie erst recht nichts davon.

Sollen die Linksgrünen das wirklich tun?

Hallenfussball oder Tagwacht

Ja! Zwar kann man über Fabrice Strouns hilfloses «Wir» in «Wir leisten uns eine Kunsthalle!» schmunzeln. Wir sind ja nicht jene, die Strouns «wir» meint. Trotzdem brauchen wir die Kunsthalle: als Sehschule. Als Ort, der unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt. Sonst dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir vom kulturindustriell hergestellten visuellen Schrott alternativlos zugemüllt werden.

Für alle Eingeborenen, die der Meinung sind, man sollte aufwachen, bevor der Jungfreisinn am Helvetiaplatz Hallenfussballturniere veranstaltet, gilt deshalb jetzt vor allem anderen: hingehen, hinschauen, nachdenken, fragen, diskutieren. Nur wenn die Kunsthalle auch wieder ein bisschen «unsere» Kunsthalle wird, können «wir» sie verteidigen. (Virginia Overton ist noch bis zum 6. Oktober 2013 zu sehen.)