Quartier als Lebensraum

von Thomas Göttin 9. März 2021

Am 30. März wird Sabine Schärrer als Geschäftsführerin der «QuaVier» (Quartierkommission des Stadtteil IV) verabschiedet. Journal B nahm dies zum Anlass für ein Gespräch mit ihr und Rachel Picard (Geschäftsleiterin der Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem) über moderne Stadtentwicklung und die Zukunft der Quartierkommissionen. Im ersten Teil geht es um Quartiere, öffentliche Räume und ihre gesellschaftliche Funktion.

Thomas Göttin: Was ist eine Quartierkommission?

Sabine Schärrer: Da ist schon ein erster Konstruktionsfehler, wir heissen zwar Quartierkommissionen, sind aber eigentlich Stadtteilkommissionen mit mehreren Quartieren.

Göttin: Bleiben wir kurz beim Quartier.

Rachel Picard: Quartiere sind ein räumlicher und sozialer Lebensraum, die nächst grössere Einheit als die Nachbarschaft. Man könnte das Quartier auch als das Dorf in der Stadt bezeichnen.

Quartier-Strukturen

Schärrer. Es gab mal eine Untersuchung, wonach das Quartierzentrum Villa Stucki einen Einzugsbereich von 300 Metern hat. Das war der Quartierbegriff aus den 60er, 70er Jahren mit einem festen Punkt. Hier im Osten Berns ist das Quartier vielleicht dort, wo die Leute noch die gleichen Flyer lesen an den Plakatsäulen, gemeinsam ein Strassenfest organisieren oder im gleichen Laden einkaufen. Der Verkehr ist oft Trennung. Was an einer Plakatsäule ennet der Muristrasse steht, lesen die von der andern Strassenseite kaum mehr.

Picard: Bei uns im Westen hat es räumlich klarere Quartiere wie die Grossüberbauungen, Arbeitersiedlungen, Stadtvillen. Es gibt augenfällige Masstab-Sprünge zwischen diesen Quartieren. Der Westen war ja immer auch ein Experimentierfeld der Stadtentwicklung.

Schärrer: Meine Eltern waren stark an diesen Massstab-Sprüngen beteiligt. Tscharni, Gäbelbach, und was es an Infrastruktur braucht, damit ein Quartier zum Lebensraum wird: das waren unsere Themen am Mittagstisch. Mein erster selbständiger Ausflug als ich 12 Jahre alt war galt der schönen Bibliothek im Tscharni.

Picard: Quartiere werden auch definiert durch die Alltagswege der Menschen die sich kreuzen, die ein dichtes Netz an Interaktion ergeben. Wenn die Versorgung im Quartier wegfällt, entfallen auch die Alltagsbewegungen, also der Weg ins Lädeli. Dann finden Begegnungen nicht mehr statt. Das ist eben auch wie im Dorf, wenn zuerst die Metzg und dann die Bäckerei schliesst. Corona könnte vielleicht ein Umdenken bewirken – während des Lockdowns jedenfalls hat sich das Verhalten verändert.

Der öffentliche als gesellschaftlicher Raum

Schärrer: Ich habe eine grundsätzliche Kritik an der Gemeinwesenarbeit in Bern. Heute werden die Quartierzentren liquidiert. Die Quartierarbeit ist mobil, aber erreicht die trotzdem nicht, die sie erreichen will. Zürich hat ganz altmodisch für jedes Quartier einen Treffpunkt. Die Bevölkerung kann mitgestalten. Die Stadt stellt die Räume zur Verfügung. Ich meine, wenn man von verdichtetem Wohnen spricht, umfasst das eben auch den erweiterten öffentlichen Wohnraum, das gehört zur Infrastruktur wie die Schulräume.

 

«Wo sind soziokulturelle Angebote am richtigen Ort?»

 

Picard: Den Wert der öffentlich zugänglichen Räume, Aula oder Mehrzweckraum, sieht man oft erst, wenn sie wegfallen. Im Gäbelbach wurde der Treffpunkt geschlossen, nun wird er mühsam wieder aufgebaut. Mit der Stadtentwicklung nach innen entstehen nun vielerorts neue Zentren. Doch es ist wichtig, die sozialräumlichen Auswirkungen auf die bestehenden Quartiere zu beachten. Wie viel Zentrum verträgt es, ohne dass den bestehenden Quartieren das Wasser abgegraben wird? Wo sind soziokulturelle Angebote am richtigen Ort? Wie wird die Zugänglichkeit sichergestellt? Letztendlich hat eine wachsende Bevölkerung auch einen wachsenden Bedarf an sozialen Infrastrukturen zur Folge. Ganz banal: wo mehr Familien wohnen, hat es mehr Schulkinder und es braucht mehr Schulraum. Das gilt auch für soziokulturelle Angebote. Angebote einfach nur in neue Zentren abzuziehen entleert alte Zentren. Und das sind dann die sozialen Brennpunkte…

Schärrer: Die Stadt hat sich nicht wirklich um diese Fragen gekümmert. Brünnen ist ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte – aber schreib das nicht!

Zukunftsfähigkeit

Picard: Viele neue Projekte wie Warmbächli oder Burgernziel streben eine soziokulturelle Begleitung für den Einbezug der Bevölkerung und gemeinschaftlich genutzte Räume an.

Schärrer: Das Burgernziel? Da wollte die Quartierkommission ein Stadtteilbüro wie in Holligen. Über 10 Jahre hat man das mit der Stadt geplant. Wir haben sogar bewilligte Reserven beiseite gelegt, und kürzlich kam der Brief von der Stadt, das gehe nun doch nicht. Ein Riesenfehler.

Picard: Ok, im Burgernziel nicht. Dass genossenschaftliche Neubausiedlungen vermehrt Siedlungscoaches anstellen, zeigt aber, dass Entwicklung und Aufrechterhaltung von lebendiger Nachbarschaft eine gewisse Unterstützung braucht.

 

«Der Westen Berns ist zukunftsfähiger als der Osten.»

Schärrer: In bin der Ansicht, der Westen Berns ist in jeder Hinsicht – städtebaulich, gesellschaftlich, politisch – zukunftsfähiger und langfristig robuster als der Osten, dessen städtebaulichen Strukturen die grundsätzlich ungerechte Verteilung der Ressourcen widerspiegeln: Privater Grundbesitz und eine Bauordnung, die kein verdichtetes Wohnen ermöglicht. Damit fehlen die genossenschaftlichen, gemeinnützigen oder städtischen Bauträger und öffentliche, gesellschaftlich integrierende Strukturen. Ein Beispiel: Das ASTRA wollte Hand bieten, entlang den Lärmschutzwänden der Autobahn im Ostring das schmale Trottoir etwas zu erweitern, aber von ca 12 privaten Haus-Besitzern sind nur drei überhaupt zur Diskussion erschienen, und die haben alle abgelehnt. Im Osten überwiegt die überholte Vorstellung von privaten Häusern mit Garten, – Gemeinsinn entwickelt sich so halt nicht besonders.