Mit Dialog und Zusammenarbeit in die Zukunft – SIBA XXVIII

von Luca Hubschmied 16. Mai 2019

Das noch junge Projekt «collaboratio helvetica» will Individuen und Organisationen unterstützen, die sich für die internationalen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung einsetzen. Um das zu ermöglichen, setzt collaboratio auf einer systemischen Ebene an und vertritt einen kollaborativen Ansatz, wie er auch in der Schweizer Geschichte verankert ist.

Um acht Uhr morgens öffnet Nora Wilhelm die Türe zu der Wohnung im nördlichen Teil des Rossfeldquartiers. An der Türklingel ist «collaboratio helvetica» angeschrieben, wer dahinter ein Büro im herkömmlichen Sinne erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. «Bei uns gilt der Grundsatz, dass wir unsere eigenen Prototypen sein wollen», meint Nora Wilhelm und zeigt auf den langen Tisch, der in der Zweier-WG als Ess- und Bürotisch dient. Dazu gehört, die Philosophie, die collaboratio helvetica in die Welt tragen will, auch selbst zu verkörpern. Mit ein paar Sätzen wischt sie Fragen nach Trennung von Beruf und Freizeit beiseite: «Ich will leben, was ich mache.»

120 Prozent Einsatz

Nora Wilhelm selbst ist 25-jährig und hat ihren Bachelor in International Affairs an der HSG abgeschlossen. Anstatt danach den Master anzuhängen, hat sie sich collaboratio helvetica verpflichtet. Ihr Engagement als «Catalyst» (die Person, welche das Projekt leitet oder eben katalysiert) ist ein 100 Prozent-Pensum. «Oder oft eher 120 Prozent», wie sie lachend ergänzt. Klar, dass das teils auch an die Reserven gehe, gibt Nora Wilhelm zu: «Wir wollen uns alle wirklich rein geben und das verlangt einem auch persönlich viel ab.»

Nora Wilhelm ist sich gewohnt, über ihre Vorstellungen und Ideen zu diskutieren, das merkt man. Eloquent und mit französischen und englischen Einschüben ergänzt, skizziert sie die Idee hinter collaboratio helvetica: «Wir sind eine Initiative, die auf systemischer Ebene aktiv ist. Es geht uns darum, Verantwortung im grossen Sinne zu übernehmen, nicht nur für die Konsequenzen beispielsweise unseren Konsums, sondern auch für das, was noch möglich ist – unser echtes Potential.» Die Schweiz sei ein Land mit einer langen kollaborativen Geschichte, dies wolle man sich zu Nutzen machen.

Der entscheidende Pass

Im Geist Sozialer Innovation fördert collaboratio helvetica den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Individuen und Organisationen, die sich für das Erreichen der internationalen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der UNO und den dafür notwendigen systemischen Veränderungen einsetzen. Nora Wilhelm kann ein Beispiel geben: «Viele NGOs im Umweltbereich stehen in Konkurrenz zueinander. Dabei sind doch alle im gleichen Team und haben dasselbe Ziel. Unser Angebot ist es, mitzuhelfen, ein kollaboratives Ökosystem zu kultivieren. Oft wollen alle das entscheidende Tor erzielen, dabei wäre es genauso wichtig, im richtigen Moment den entscheidenden Pass zu spielen.» Privatpersonen, die sich für das Angebot von collaboratio interessieren, können als «Explorer» dem Projekt beitreten und so Teil der Community werden. Unterstützt wird collaboratio helvetica von Engagement Migros, dem Förderfonds der Migros-Gruppe.

Seit der Gründung im Dezember 2016 sieht sich collaboratio helvetica mit den Herausforderungen von Transformationsprozessen konfrontiert: «In unserer Methodik beziehen wir uns primär auf den Ansatz von sozialen Laboratorien, sogenannte Social Labs», erläutert Nora Wilhelm, «mit dieser neuartigen Vorgehensweise sind wir in der Schweiz in einer Vorreiterrolle.» Es sei daher nur logisch, dass man sich auch ständig neu definieren muss. Diese Herausforderung teilt collaboratio mit den meisten Initiativen im Bereich Soziale Innovation, wie auch mit dem fast gleichzeitig gegründeten Soziale Innovation Bern Accelerator (SIBA) selbst.

Potentiale zur Kollaboration unterstützen

collaboratio helvetica hat grosse Visionen, davon sind allerdings noch nicht sehr viele an die grosse Öffentlichkeit gedrungen, dies bestätigt auch Nora Wilhelm: «Es war anfangs sicher richtig, nicht zu offensiv zu kommunizieren. Obwohl doch schon einige Artikel über uns erschienen sind.» Man habe sich bewusst für ein langsames Wachstum entschieden, meint sie, und sowieso: «Wer sich für unsere Themen und Ansätze interessiert, wird uns finden.» In Zukunft soll die Sichtbarkeit aber erhöht werden, dies hängt auch mit einem neuen Programm zusammen, das collaboratio ins Leben rufen will: «Mit dem ‚Catalyst Lab’ wollen wir Menschen, die in ihrem Umfeld etwas ändern wollen, unterstützen und begleiten», erklärt Nora Wilhelm. In einem 9-monatigen Prozess sollen die 15-20 Teilnehmenden lernen, ihr sie umgebendes System zu analysieren und Potentiale zur Kollaboration auszuschöpfen. Das Programm richte sich an alle Berufsgruppen, von der Lehrerin bis zum Betriebswirtschaftler.

Nebst dem Catalyst Lab entwickelt collaboratio helvetica momentan zwei weitere Stränge weiter. Einerseits soll die Community weiter gestärkt werden, etwa durch die Einführung einer digitalen Vernetzungsplattform. «Und zusätzlich bauen wir einen sogenannten ‚Practitioner Circle’ auf», sagt Nora Wilhelm und zeigt auf ein grosses Blatt, das neben dem Tisch an der Wand hängt. Mit verschiedenen farbigen Punkten und Kreisen ist schematisch der Aufbau von collaboratio helvetica dargestellt. «Die Practitioners sollen die Methodologie für soziale Transformationsprozesse weiterentwickeln, vermitteln und weitere Personen für diese Aufgaben ausbilden», erläutert Nora Wilhelm. Innovationsfachpersonen seien heute fast ausschliesslich in der Privatwirtschaft angestellt. collaboratio will das ändern und hofft darauf, dass aus dem Catalyst Lab heraus in der Schweiz neue soziale Laboratorien entstehen, die Bedarf nach solchen Practitioners haben.

 

Arbeiten in der ‘creative tension’

Während Nora Wilhelm über Strukturen und die Zukunft von collaboratio spricht, füllt sich die Wohnung nach und nach. Unterdessen sind Isabelle Ruckli, Sarah Friederich und Daphne Bucher eingetroffen. Die vier werden heute an dem Arbeitsplatz weiter am gemeinsamen Projekt feilen. Auf aktuelle Schwierigkeiten und Hürden bei collaboratio helvetica angesprochen, verweist Nora Wilhelm auf den von Peter Senge geprägten Begriff der «creative tension»: «Zwischen der erlebten Realität und dem vorhandenen Potential in unserer Umwelt klafft eine grosse Lücke. Wir bewegen uns in eben dieser sogenannten ‚creative tension’, was anstrengend sein kann, aber notwendig ist, um etwas zu bewirken.» Daneben stellen sich für collaboratio helvetica aber auch ganz praktische Probleme, etwa das Fundraising für das Catalyst Lab. «Viele Stiftungen tun sich schwer damit, Gelder für die Entwicklung sozialer Innovation zu sprechen», meint Nora Wilhelm zum ersten Mal in einem leicht genervten Tonfall. Die finanzielle Unterstützung sei oft sehr kurzfristig ausgelegt und zwinge verschiedene Projekte und Organisationen in eine Konkurrenz zueinander. «Und dann wundern sich die Stiftungen, dass der Wissenstransfer nicht funktioniert», sagt sie und schüttelt den Kopf. Auch da sehe collaboratio das Potenzial, längerfristig an einen Systemwandel beizutragen.