Die Studentin aus Aleppo (III)

von Fredi Lerch 19. Oktober 2018

Im Herbst 2012 flüchtete Ghazal Sultan mit ihrer Mutter vor dem Krieg in Syrien in die Schweiz. Vor dreieinhalb Jahren hat sie auf Journal B über Herkunft, Flucht und Ankunft berichtet. Wo steht sie heute?

Anfang Oktober 2018, Restaurant Tibits im Berner Hauptbahnhof. Das ist unser zweites Gespräch, gut dreieinhalb Jahre nach dem ersten, wieder vermittelt von Stephanie Schär, der Leiterin des Treffpunkts Untermatt in Bern-Bethlehem. Damals hatte Ghazal Sultan einen F-Ausweis und in Biel eben ein Medizininformatik-Studium begonnen. Und wie ging es weiter?

Die Gründe für den Unterbruch des Studiums

 «Für zwei Jahre im gleichen Rhythmus», sagt sie. «Dann habe ich mich entschlossen, für zwei Semester zu unterbrechen.» Es habe sich gezeigt, dass das Vollzeitstudium in deutscher Sprache für sie sehr, sehr anstrengend sei. Im Rückblick sagt sie: «Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich langsamer angefangen hätte. Es war viel zu viel auf einmal.» 

Ab Februar 2017 sucht sie eine Arbeitsstelle, Mitte April findet sie eine. Seit Anfang Mai 2017 arbeitet sie als Betreuerin, Wochenend-Aushilfe und Übersetzerin im Übergangszentrum Worb des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), das in der alten Filzfabrik von Enggistein untergebracht ist. «In diesem Zentrum leben besonders schutzbedürftige syrische Flüchtlinge, die im Rahmen des UNHCR-Resettlement-Programms aus Drittstaaten in die Schweiz gekommen und als Flüchtlinge anerkannt worden sind», erzählt sie. Die Flüchtlinge kämen zum Beispiel aus dem Libanon oder aus Jordanien, lebten für sechs bis acht Monate im Übergangsheim und würden dann in eine eigene Wohnung ziehen, wobei sie von Mitarbeitenden des SRK insgesamt fünf Jahre lang betreut würden. «Ich mache diese Arbeit sehr gerne», sagt sie und erzählt, dass sie über ihre 30 Prozent-Anstellung hinaus im Stundenlohn mitarbeite, häufig noch einmal soviel. 

Im Februar 2018 erhält sie zudem beim Kompetenzzentrum für Integration in der Stadt Bern die Chance mitzuarbeiten. Seither hat sie für neu ankommende Leute mehrere FitInBern-Alltagskompetenzkurse durchgeführt. Und: Die Volkshochschule Bern hat einen Arabischkurs mit ihr als Lehrerin ausgeschrieben. «Leider fand der Kurs nicht statt, weil es zu wenig Anmeldungen gab», sagt sie. 

Neben der starken Belastung habe der Unterbruch des Studiums aber noch einen anderen Grund gehabt. Wer mindestens fünf Jahren in der Schweiz ist und für mindestens ein Jahr Selbständigkeit, also eine feste Anstellung, nachweisen kann, habe das Recht, ein Härtefallgesuch für einen B-Ausweis zu stellen. Nach einem Jahr Arbeit im Übergangsheim, im Mai 2018, seien für sie beide Bedingungen erfüllt gewesen, und so habe sie das Gesuch für den B-Ausweis beim Staatssekretariat für Migration eingereicht. Im August sei ihr bestätigt worden, dass ihr Dossier wieder geöffnet werde, dass man aber weitere Papiere brauche, etwa Lohnabrechnungen oder den Strafregisterauszug. Diese Papiere hat sie Mitte September nachgereicht. Im Moment wartet sie nun auf Antwort. 

Der Untergang von Ghazal Sultans Aleppo

Dann kommt das Gespräch auf Aleppo, ihre Stadt, die seit dem 22. Dezember 2016 nach Bombardementen und Kämpfen wieder unter der Kontrolle der von Russland unterstützten syrischen Regierungstruppen ist. Wie sie die Lage heute einschätze? «Wenn ich syrische Fernsehsendungen anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass die Leute in Aleppo wieder tipptopp leben.» Aber sie habe dort auch Freunde und Verwandte. Und diese sagten, das Leben sei zwar tatsächlich besser als im Krieg, vor allem gebe es wieder Wasser und Strom, und der Wiederaufbau habe begonnen. Allerdings würden in den letzten Tagen wieder vermehrt Bombenanschläge am Stadtrand und Stromausfälle gemeldet. Die zurzeit umkämpfte Stadt Afrin liege eben nur vierzig Kilometer nordwestlich von Aleppo.

Aber in ihrer Stadt gebe es noch ein anderes Problem, sagt Ghazal Sultan: «Gebäude kann man wieder aufbauen, aber psychische Zerstörungen in den Menschen zerstören ganze Generationen. In Aleppo sind die moralischen Werte der Menschen und das ethische Fundament der Gesellschaft verlorengegangen. Das Einzige, was noch Wert hat, ist Geld und Macht. Die Leute der Kultur, der Religion und der Wissenschaften müssen heute bildungslosen Menschen, den Leuten von Regime und Armee, die Klinken putzen.» Vor dem Krieg habe es Menschen gegeben, die hätten zwanzig Prozent Macht gehabt und versucht, diese nach Kräften auszunutzen, und das sei schon schlimm genug gewesen: «Heute haben diese Leute achtzig Prozent Macht. Sie sind für das Regime und dürfen deshalb tun, was sie wollen. Manchmal scheint mir, in Aleppo sei die Gesellschaft verloren.» 

Allerdings, präzisiert sie: Wenn sie das Assadregime kritisiere, heisse das nicht, dass sie für die andere Seite sei. Die andere Seite sei ebenso schlimm. Die Forderungen des Arabischen Frühlings von 2011, Freiheit und Demokratie für eine bessere Zukunft, seien schnell weg gewesen. «Nach ein paar Monaten war alles anders gesteuert, und auch die Leute der Opposition wollten meistens einfach Geld und Macht.» Und dann sagt sie: «Ich liebe mein Land. Ich vermisse es. Ich habe in Aleppo zwar acht Monate Krieg erlebt. Aber zuvor achtzehn gute Jahre. Ich befürchte, wenn ich heute nach Syrien gehen würde, würde ich mein Aleppo nicht mehr finden.» 

Eine ganz normale Entlassung

Am 20. Juni 2018 hat die Lokalzeitung «Worber Post» gemeldet, die Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern habe entschieden, wegen des Rückgangs der Flüchtlingszahlen das Übergangsheim in Enggistein vorderhand zu schliessen. Die dort lebenden Flüchtlinge würden ins zweite SRK-Heim im Kanton Bern, jenes in der Länggasse, verlegt – und: «Alle 15 Mitarbeitenden in Enggistein werden entlassen.» Auch Ghazal Sultan hat per Ende Dezember 2018 die Kündigung bekommen.

Wie soll es jetzt weitergehen? 

Ghazal Sultan sagt: «In diesem Herbst habe ich mein Studium wieder aufgenommen – allerdings habe ich den Bereich geändert. Statt Medizininformatik in Biel studiere ich jetzt Wirtschaftsinformatik in Bern, und zwar Teilzeit, zwei Tage pro Woche, damit ich weiterhin auch Zeit habe zu arbeiten und Erfahrungen zu sammeln. Sorgen macht mir, dass die Anträge von meiner Mutter und mir für einen B-Ausweis abgelehnt werden könnten, weil ich nach meiner Entlassung ab Anfang nächstem Jahr finanziell nicht mehr selbständig bin. Darum suche ich dringend eine neue feste Teilzeitanstellung. Das Resettlement-Programm der UNHCR für syrische Flüchtlinge geht ja weiter. Ich würde gerne weiterhin für diese Flüchtlinge arbeiten.»