Ein stets auszubalancierendes Mobile – QZxJB II

von Christoph Reichenau 24. Dezember 2017

Vor 55 Jahren erschien die erste Ausgabe, am 21. Dezember die jüngste. Ohne „Wulchechratzer” ist Bethlehem nicht vorstellbar. Er ist ein Element der Identität des Quartiers.

Eben ist die 698. Ausgabe erschienen, die jüngste seit dem Start im Jahr 1963. Zuerst alle drei Wochen, jetzt monatlich kommt «Der Wulchechratzer» mit einer Auflage von 8‘000 Exemplaren gratis in jeden Haushalt des Gebiets 3027. Im 55. Jahrgang ist das Quartierblatt von Bethlehem so lebendig und so nötig wie seit Beginn.

Hochhäuser

In Bethlehem wurden seit den späten 1950er Jahren die ersten grossen Wohnblöcke der Schweiz gebaut. Die Hochhaussiedlungen heissen Tscharnergut, Gäbelbach, Bethlehemacker, Holenacker. Einst umstritten, gelten sie heute als Ikonen des sozialen Wohnungsbaus und sind für die Denkmalpflege interessant. In Bethlehem wohnen etwa 14‘000 Menschen, davon 35 % AusländerInnen.

Mitten im Quartier liegt das Quartierzentrum Tscharnergut. Hier entsteht, heute wie schon immer, der «Wulchechratzer» im Auftrag der Quartiervereine Bethlehemacker, Bethlehem-Leist, Brünnen, Eymatt, Gäbelbach, Holenacker, Untermatt und Tscharnergut. Er ist die Plattform aller Vereine, Organisationen und Einrichtungen und gleichzeitig Organ des Quartiervereins Tscharnergut. Neu gehört zum Verbreitungsgebiet auch Brünnen.

Falten und plaudern

Eine Redaktion gestaltet das Blatt. Darin wirken regelmässig Lehrpersonen, VertreterInnen der Kirchen und PräsidentInnen der Quartiervereine mit. Voraussetzungen: Flair für die Sprache, Neugier, Freude am Kontakt mit Leuten und am Schreiben.

Die Druckerei Hofer AG in Bümpliz  liefert die Auflage in zwei doppelseitig bedruckten Bogen im Format leicht grösser als A3. Frauen aus dem Quartier falten von Hand die Bogen je zweimal. So entsteht beim Plaudern ein schmales, hochformatiges Heft von 16 Seiten. Es ähnelt einem Wolkenkratzer. Wie die Mitglieder der Redaktion arbeiten die faltenden Frauen ehrenamtlich für einen Kaffee und ein Gipfeli. Jährlich gibt es einen Ausflug und ein Essen, einmal karger, einmal üppiger, je nach Lage der Finanzen.

20‘000 Franken pro Jahr

Thema Finanzen: Die Herstellung, der Druck und der Vertrieb der 12 Nummern pro Jahr kommt auf etwa 20‘000 Franken. Die Einnahmen stammen aus Inseraten (1/4-Seite kostet 120 Franken, 1/8-Seite 60 Franken) und aus Zuwendungen der Wohnbaugenossenschaften (FamBau, Brünnen-Eichholz, Ziwag); ein Spendenaufruf bringt jedes Mal rund 7‘000 Franken. Irgendwie geht es Jahr für Jahr gerade auf.

Dies gelingt auch, weil der Vertrieb praktisch gratis ist. Mädchen und Buben, SeniorInnen und weitere Freiwillige verteilen die Quartierzeitung im ganzen Bezirk 3027. Ausgeklügelte und stets à jour gehaltene Listen weisen den Weg auf dem Chehr, warnen vor bösen Hunden und zu überkletternden Zäunen, geben aber auch an, wo Kaffee oder Sirup warten. Nur wenige Exemplare sind abonniert (ab 30 Franken im Jahr) und werden per Post versandt, einmal sogar bis nach Brasilien.

Verankert und unabhängig

Der «Wulchi», so die Koseform, ist bei den BethlehemerInnen fest verankert. Dazu trägt die Milizorganisation bei, dank der viele Leute mit dem Blatt in Berührung kommen. Einer unlängst durchgeführten Umfrage zufolge kennen 80% der Menschen das Heft, mehr als 70% lesen es. Der «Wulchi» ist wichtig für die Identität des Quartiers, er trägt zu ihrer Festigung bei, ist Teil seiner Tradition. Wie der «Wulchi» funktioniert, das ist eine Art Mobile in stets fragiler Balance.

Diese Balance in Eigenständigkeit zu erhalten, ist das Ziel der Herausgeber. Alle paar Jahre macht die »Bümpliz-Woche», die harte Konkurrenz ennet der Bahngeleise, Vorschläge für Kooperationen bei der Werbeaquisition, beim Vertrieb undsoweiter. Immer wehrte man den Anfängen und blieb unabhängig.

Feste Rubriken

Unabhängig, um frei zu berichten, was im Quartier läuft, was die Menschen bewegt, was sie tun und lassen. Darüber hinaus gibt es in jeder Ausgabe Besonderheiten: Porträts ehemaliger Bethlehemer wie Büne Huber (Patent Ochsner) zum Beispiel, eine Weihnachtsgeschichte, Glossen. Natürlich reiten die RedaktorInnen ihre Steckenpferde, besprechen (wie übrigens auch Kinder) Bücher, weisen auf auswärtige Konzerte hin, informieren über Themen, die das Quartier bewegen, etwa die Integration Zugewanderter.

«Der Wulchechratzer», das sind heute insgesamt 698 Ausgaben in Papier. Die Ausgabe auf Papier war nie in Frage gestellt, auch wenn es das Blatt seit einiger Zeit online gibt. Zwei vollständige Serien sind archiviert für den Fall, dass Quartierzentrum und Herausgeberschaft sich trennen sollten. Jede Nummer geht an das Dorfarchiv Bümpliz, an die Nationalbibliothek in Bern, an die GemeinderätInnen. Jede Nummer liegt auch in Coiffeursalons, in Heimen, Bibliotheken, Arztpraxen und an vielen Orten mehr auf.  Der «Wulchi» ist nicht l’art pour l’art – man will die Leute erreichen.

Die Visitenkarte

Dazu dient auch die Titelseite, sozusagen die Visitenkarte. Zu Beginn beliebig, folgt ihre Gestaltung seit einiger Zeit einem Motto. Einmal waren es Türen und Bauten in Bethlehem, 2017 dann einheimische Pflanzen, die im Quartier zu finden sind (die neueste Ausgabe ziert ein Lindenzweig). 2018 werden Ausflugsziele im Berner Westen an der Reihe sein: Tipps für kleine Fluchten im Alltag; die Bevölkerung ist eingeladen, ihre Lieblingsplätzchen zu zeigen.

So quartierbezogen das Blatt, so offen ist die Redaktion: Sie nimmt Zeitungen anderer Teile der Stadt Bern regelmässig wahr, leistet Geburtshilfe für neue (so für den «Jupi») und kommuniziert mit deren Herausgebern. Dies ist ein Grund von vielen, weshalb der »Wulchi» auch nach 55 Jahren frisch und einladend ist.

Otto Wenger, der Ausbalancierer

Wie «Der Wulchechratzer» ist der heutige Hauptverantwortliche ein Kind des Quartiers. Otto Wenger ist als Zweijähriger mit den Eltern nach Bethlehem gezogen und mit dem Blatt gross geworden. Früh lernte er lesen, um auf den SBB-Kartonbilletten des Grossvaters dessen Reiseziele als Nähmaschinenvertreter entziffern zu können. Lesend entdeckte er früh den «Wulchechratzer», interessiert an den Rubriken über die Schule, den Tiergarten, für die Jungen. Nach einer Lehre als Buchhändler bei Benteli und Berufsjahren in Ted Scapas Bücherhaus wagte er 1986 den Wechsel an das Quartierzentrum, dessen Leitung er 1990 – nach einer Auszeit in Kanada und Irland – als Nachfolger des legendären Hansjürg Uehlinger übernahm. Wenger, Öttu für die meisten, hält im Tscharnergut das Quartier und den Laden zusammen – oder besser: in Balance. Dazu gehört unübersehbar «Der Wulchechratzer». Eine Frage der sozialen Vernunft und der Begeisterung für das allen im Quartier Gemeinsame. Wenn man ihn reden hört, könnte man an Liebe denken.