Der Tellerjongleur von der Schlossstrasse 87a

von Fredi Lerch 4. August 2017

Jörg Rothhaupt ist Quartierarbeiter im Stadtteil 3. Begonnen hat er vor zwanzig Jahren in der Villa Stucki. Dort lernte er, dass man mit dem Quartierzentrum nur begrenzt die 30’000 EinwohnerInnen im Stadtteil erreichen kann.

Das Gespräch mit dem Quartierarbeiter Jörg Rothhaupt findet im Quartierbüro Holligen statt. Einmal wird es kurz unterbrochen. Eine ältere Frau tritt ein und bringt ihren unterzeichneten Petitionsbogen «Post Holligen muss bleiben!» vorbei. Die Petition ist eine Quartierinitiative von der SP Holligen und dem Quartierverein Holligen. Bevor wir das Gespräch weiterführen, sagt Rothhaupt: «Die Petition soll helfen, dass wir mit der Post ins Gespräch kommen. Die Poststelle Holligen ist ein Teil der Nahversorgung, gerade für ältere Leute. Darum unterstützt unser Büro als Sammelstelle die Aktion.»

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Journal B: Jörg Rothhaupt, 1998 wurden Sie von der VBG für das Leitungsteam des Quartierzentrums Stadtteil 3 in der Villa Stucki angestellt. Heute arbeiten Sie zwar für den gleichen Arbeitgeber, sind unterdessen Master in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung, und doch residieren sie nicht mehr in der Villa, sondern nur noch in einem unspektakulären Ladenlokal an der Schlossstrasse in Holligen. Warum?

Jörg Rothhaupt: Während der Sozialarbeiterausbildung begann ich, freiwillig in der Villa Stucki mitzuarbeiten. Im Rahmen meiner Diplomarbeit machte ich dann eine Analyse über Langzeiterwerbslosigkeit im Stadtteil 3 und lernte ihn so noch näher kennen. Nach der Ausbildung bewarb ich mich für die vakante Stelle und kam so ins Leitungsteam in der Villa Stucki. Dort übernahm ich das Ressort Gemeinwesenarbeit. Zum Pflichtenheft gehörte die interne und externe Kommunikation, etwa die Redaktionsleitung der «Villa Stucki-Zytig». Zudem war ich zuständig für Kulturveranstaltungen, die Leitung der Beiz oder die Betreuung der 115 Freiwilligen in der Villa Stucki. Mein Pensum war also gefüllt mit Arbeiten, die sich aus dem gut eingespielten Betrieb ergaben.

Warum die Lust auf Veränderung?

Ich merkte: Alles, was wir hier tun, ist gut, aber es reicht nicht. Der Wirkungskreis der Villa Stucki hatte im Wesentlichen einen Radius von vielleicht fünfhundert Metern. In meinem Vertrag lautete der Auftrag aber «Gemeinwesenarbeit Stadtteil 3». Dieser Stadtteil reicht von Marzili und Schönau entlang der Könizer Grenze bis zum Autobahn-Viadukt, die die Grenze zum Stadtteil 6 Bümpliz-Bethlehem macht, hinüber zum Bremgartenwald, stadtwärts bis an den Hirschengraben und wieder hinunter ins Marzili. Auf diesem Gebiet leben rund 30’000 Menschen, und es gibt hier 40’000 Arbeitsplätze.

Davon ist das Weissenbühl-Quartier, in dem die Villa Stucki steht, allerdings ein kleiner Teil.

Darum war ich bald überzeugt, dass wir auch hinausgehen müssen. Ein Anfang machte ich mit der «Villa Stucki-Zytig». Trotz des grossen Aufwands, vor allem von Freiwilligen, erschien sie nur in einer Auflage von 2000 Exemplaren. Wir suchten in jedem Quartier eine Korrespondentin und begannen, die Zeitung «Triagonal» zu machen, die über den ganzen Stadtteil berichtete, was meinem Informationsauftrag entsprach. Heute heisst die Zeitung Quartiermagazin Stadtteil 3. Sie wird von Christoph Berger redaktionell und Irene Ehret grafisch betreut. Die Zeitung geht an alle 18’000 Haushaltungen im Stadtteil. Sie ist kostendeckend, weil wir den Inseratetarif erhöhen konnten und Organisationen aus dem Stadtteil mit bezahlten Beiträgen die Zeitung mitfinanzierten. Herausgeberin ist weiterhin die Villa Stucki. Das Redaktionsteam funktioniert bestens, ich habe mich längst in die zweite oder dritte Reihe zurückgezogen.

Das war ein erster, allerdings nur medialer Schritt aus der Villa.

Ein weiterer war, dass wir das traditionelle Villa Stucki-Fest zu einem zweitägigen Quartierfest erweitert haben. Dafür suchten wir den Kontakt zur benachbarten Sulgenbachschule. Als erstes brachen wir ohne Bewilligung ein zwei Meter breites Loch in die Betonmauer, die die Areale trennte – auch damit die Schülerinnen und -schüler der Tageschule, die jeweils in die Villa zum Mittagessen kamen, ohne Kletterei herüberkommen konnten. Für das mehrmals durchgeführte Quartierfest standen dann beide Areale zur Verfügung.

Unterdessen machte ich eine Weiterbildung, die mir zusätzlich zeigte, dass es neben der «Komm-Struktur» der Gemeinwesenarbeit, wie sie ein Quartierzentrum mit konkreten Angeboten zur Verfügung stellt, auch eine ausgebaute «Geh-Struktur» braucht mit dem Ziel, jene Leute, insbesondere Benachteiligte, zu erreichen, die nicht ins Zentrum kommen wollen oder können. Der Anteil Benachteiligter im Weissenbühl-Quartier ist bekanntlich nicht sehr hoch.

Vielleicht auch, weil ich ursprünglich Bauzeichner gelernt habe, interessierte mich an der Gemeinwesenarbeit stark der Raum-Aspekt. 2003 nahm ich mit meiner damaligen Arbeitskollegin die Arbeit im Sozialraum auf. Als erstes machten wir eine Stadtteil 3-Analyse und waren danach überzeugt, dass wir vor allem in Holligen arbeiten müssen, weil hier die meisten sozioökonomisch Benachteiligten leben. Zuerst arbeiteten wir mobil mit einem Büroarbeitsplatz in der Villa. 2008 eröffneten wir dann dieses Quartierbüro hier, weil wir noch besser erreichbar sein und dem Informationsdefizit der Leute in Holligen entgegenwirken wollten. Unterdessen macht mit Nina Müller von der Villa Stucki her eine weitere Kollegin Quartierarbeit im heterogenen Stadtteil.

Zu zweit hier in Holligen – was kann man da erreichen?

Als erstes gingen wir ganz in den Westen des Stadtteils und machten uns schlau. Dort gab es die vier Blöcke der BiWo-Siedlung zwischen Bahnstrasse und Krippenstrasse – BiWo steht für billigen Wohnraum. Mit fünfzig der hundertzehn Parteien konnten wir eine Aktivierende Befragung durchführen, also ein Interview nach dem Raster: Was gefällt dir im Quartier? Was gefällt dir nicht, was müsste man ändern? Welche Lösungsvorschläge hast du? Und: Würdest du mithelfen, die Lösungen umzusetzen? Am Schluss hatten wir eine Liste mit Vorschlägen und mit Namen von Leuten, die für die Umsetzung ansprechbar waren. Als eines der Hauptprobleme zeigte sich die zunehmende Anonymität im Quartier. Darum unterstützten wir das vorgeschlagene Fest zum Kennenlernen der Nachbarschaft. Eben nächste Woche findet es nun bereits zum vierzehnten Mal statt.

Das ist allerdings ein Erfolg.

Es entstand auch anderes. Der Hauswart in der Siedlung entwickelte sich zum Siedlungscoach, mit ihm machen wir bis heute zusammen mit der Liegenschaftsverwaltung Siedlungsrapportsitzungen, damit er die Probleme mit uns besprechen kann. Mit den Bewohnerinnen gab’s sogenannte Waschküchensitzungen, um ihnen ein Heimspiel zu ermöglichen. Besprochen wurden dort alltägliche Fragen: die Abfallentsorgung, die Ordnung im Treppenhaus, die Waschküchenordnung. Ein Velokeller wurde zum Siedungsraum umgebaut, zu einem Treffpunkt, in dem auch Sitzungen stattfinden konnten. Gegen Littering gründeten wir mit Jugendlichen die «Trash Heroes» – sie kriegten ein T-Shirt, einen Hut und einen Fünfliber pro Einsatz und zogen als Assistenten des Hauswarts durch die Siedlung. Später gründeten wir eine Job-Börse für Hilfsjobs insbesondere zur Unterstützung älterer Leute. Das Ganze entfaltete Wirkung: Mit der Zeit bestätigte der Hauswart, dass Mietfluktuation und Vandalismus auf frappante Weise rückläufig seien.

Beeindruckend, aber war das mehr als Tropfen auf den heissen Stein in einem Stadtteil mit 30’000 Personen?

In der Villa Stucki hatte ich angebotsorientiert gearbeitet und musste mich entsprechend stark um die Angebote des Zentrums kümmern. Hier in Holligen waren wir mobil, unterstützend, prozessorientiert unterwegs. Das heisst: Sobald ein Projekt ins Laufen kam, begannen wir beide uns zurückzuziehen. Wir gingen hinein in die problematische Situation und unterstützten die Leute darin, sie zu lösen. Aber wir haben immer eine «Exit-Strategie», indem wir sagen: Wir unterstützen nur so lange, wie es uns braucht, dann sind wir wieder weg. Wir organisieren den Leuten keine Angebote, aber wir unterstützen sie darin, dass sie ihre Ideen wenn immer möglich umsetzen können.

Ich brauche ab und zu das Bild vom chinesischen Tellerjongleur: Wir müssen immer im Auge haben, welche Teller gut drehen, dort braucht es uns nicht. Drohen aber Teller abzustürzen, ist unsere Intervention, unsere Unterstützung gefragt. Das Ziel ist es, möglichst viele Teller am Drehen zu halten, die erwünscht sind. Mit unseren punktuellen Einsätzen sind wir so etwas wie Akupunkteure in der nachhaltigen Quartierentwicklung.

Welches sind aktuelle Projekte, die von der Quartierarbeit unterstützt werden?

Das Quartier Holligen ist ein Gebiet mit rund 6000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wir haben gleich zu Beginn unserer Sozialraumarbeit einen halbjährlichen sozialen Infotreff initiiert. Daran nehmen Vertreterinnen und Vertreter aller Organisationen teil, die hier einen sozialen Auftrag wahrnehmen, Schulen, Tageschulen und Kitas, Kirchen, die Pro Senectute, Quartiervereine, politische Parteien, Jugendarbeit, Altersheim et cetera. Wir von der Quartierarbeit machen die Einladung, die Moderation und das Protokoll mit einer Adressliste, damit die Kontakte gewährleistet sind. Ziel hier ist Vernetzung: möglichst viele Synergien, möglichst wenige Doppelspurigkeiten.

Ein aktuelles Projekt ist daneben etwa das Warmbächli-Areal, auf dem für vier Jahre eine Zwischennutzung möglich geworden ist. Dort klärten wird im Vorfeld mit der Stadt, ob und wie eine Zwischennutzung möglich wäre. Wir führten mit den Leuten im Quartier Workshops durch, und heute gibt es den Verein Warmbächlibrache, der das Areal in ehrenamtlicher Arbeit koordiniert und betreut. Sein Motto ist: Aus dem Quartier – fürs das Quartier. In den nächsten Tagen kommt wieder der Zirkus Chnopf auf das Areal. Letzthin gab’s das «Zapf», ein Festival der achtzehn kleinen Bierbrauereien auf Stadtberner Boden. Es gab auch schon ein Holzschnitzsymposium, das grosse Kinderspielfest oder ein Velocrossrennen.

Ist unterdessen das Warmbächliareal nicht zum Teil besetzt?

Doch, im oberen Teil gibt es seit einiger Zeit eine illegale Nutzung durch ein Wohnkollektiv mit Wohnwagen. Der Verein, der für das Areal mit der Stadt einen Gebrauchsleihevertrag abgeschlossen hat, suchte das Gespräch mit Stadt sowie mit den Besetzerinnen und Besetzern. Der Verein setzte sich für eine quartierverträgliche Lösung ein – immerhin gab es in unserem Stadtteil vor noch nicht langer Zeit eine heftige Zwangsräumung an der Effingerstrasse. Im Moment wird die Wagensiedlung vom Verein geduldet.

Welches sind denn aktuell die ungelösten Probleme, die die Quartierarbeit beschäftigen?

Das Problem, das nie definitiv gelöst werden kann, aber immer bearbeitet werden muss, ist die Information. Die Leute, die hier wohnen, sollen besser informiert werden. Meine Arbeitskollegin Désirée Renggli braucht daher gerne das alte Berufsbild der Telefonistin, die die Anrufe an den gewünschten Ort weiterleitete. Gelungen ist uns das zum Beispiel in der BiWo-Siedlung. Ein privates Baukonsortium zusammen mit der Stadt hat sich dort entschieden, die vier Wohnblöcke abzureissen und etappiert bis 2025 Ersatzneubauten zu erstellen. Wir haben von der Bauherrschaft den Auftrag erhalten, die Sanierung zu begleiten und möglichst sozialverträglich zu gestalten. Möglichst früh zu informieren war eines unserer Kriterien. Deshalb haben wir wiederum zu Infositzungen in den Waschküchen eingeladen. Allgemein gesagt ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Informationen, die wir aufschnappen, möglichst rasch zu den Leuten kommen, die sie kennen müssen.

Diese Quartierarbeit hat offensichtlich eine Scharnierfunktion zwischen der Stadtverwaltung und der Quartierbevölkerung. Gibt es nicht die Kritik, dass ihr ein verlängerter Arm der Verwaltung seid?

Verwaltungsnähe ist ein Thema, das stimmt, und eine kritische Distanz zur Verwaltung ist nötig. Wir haben ein hohe kooperative Haltung. Wir plädieren für eine möglichst integrale Zusammenarbeit aller Akteure. Für uns sind aber die Leute im Quartier die Expertinnen und Experten. Sie wissen, wie sie leben wollen und was es dazu braucht.

Den Vorteil, den wir hier in Bern haben, ist der, dass wir nicht städtische Angestellte sind, sondern zur VBG gehören. Die VBG entwickelt sich vom Dach- zum Fachverband und ist ein freier Träger, auch wenn das Geld via Leistungsvertrag von der öffentlichen Hand kommt. Wir sind intermediär vermittelnd unterwegs und somit in der Verwaltung und im Quartier verankert: Die Stadt hat Zielsetzungen und erteilt Aufträge und Geld, im Quartier hat es die konkreten Bedürfnisse und Anliegen. Auf dieser vertikalen Achse vermitteln wir hin und her, immer darauf bedacht, dass das Geld möglichst dorthin kommt, wo es Bedürfnisse gibt.

Ein grosser Vorteil in der Informationsvermittlung und integralen Zusammenarbeit in Bern sind die Quartierkommissionen. Dort werden frühzeitig Informationen zwischen den Stadtteilakteuren und der Stadtverwaltung ausgetauscht und Stellungnahmen erarbeitet. In Zusammenarbeit mit unserer Quartierkommission QM3 können wir so Mitwirkungsprozesse organisieren wie z.B. am Eigerplatz oder letzthin im Monbijoupark.

Prozessorientiert heisst ja auch, dass zwar bestenfalls vieles zustande kommt, aber man sich das nicht auf die eigene Fahne schreiben kann. Ist das nicht ein bisschen frustrierend?

Nein, wir sehen, dass es in unserem Stadtteil Projekte gibt, die wirklich toll unterwegs sind. Diese zu unterstützen und als Jongleur zu sehen, dass die Teller laufen, macht Freude.