Die Studentin aus Aleppo (II)

von Fredi Lerch 27. Februar 2015

Ghazal Sultan scheitert mit ihrem Asylgesuch und erkämpft sich einen Studienplatz. Jetzt hofft sie, dass der Wahnsinn in ihrer Heimat aufhört und muss gleichzeitig hoffen, dass der Krieg dort noch lange dauert.

«Wir haben nicht geplant, länger in der Schweiz zu bleiben. Wir dachten, die Kämpfe in Aleppo seien in wenigen Wochen zu Ende. Und eigentlich konnte ich nicht glauben, dass in meiner friedlichen Heimat ein Krieg ausgebrochen ist», sagt Ghazal Sultan. Das Visum, mit dem sie am 9. November 2012 in die Schweiz einreiste, war bloss drei Monate gültig. Am 13. Dezember reichte sie ihr Asylgesuch ein.

Der Kampf um einen Studienplatz

Das Asylgesuch war für sie der Entscheid, ihren weiteren Weg in der Schweiz zu suchen. Sie belegte Deutschkurse und klärte die Bedingungen für ein naturwissenschaftliches Studium an der Universität Bern ab. Zwar wäre ihre syrische Matura anerkannt worden, aber sie hätte eine Aufnahmeprüfung machen müssen in Mathematik, Deutsch, Geschichte, Englisch und einem naturwissenschaftlichen Fach (Physik, Chemie oder Anatomie). «Dafür hätte ich zwei Jahre Vorbereitungszeit gebraucht. Das wäre sehr teuer geworden.» Gleichzeitig wurde klar, dass sie ihren Traum, Bauingenieurin zu werden, begraben musste: «In diesem Bereich ist die Konkurrenz in der Schweiz so gross, dass ich kaum Chancen gehabt hätte.»

«Wir lernen, medizinische Kenntnisse mit Programmier-sprachen zusammenzuführen und unsere Projekte verkaufen zu können.»

Ghazal Sultan

So absolvierte sie an der Berner Fachhochschule (BFH) einen «Passerelle»-Vorkurs und erhielt danach – nach vielen Absagen und dank des Schulleiters, der sich, beeindruckt von ihrer Geschichte, für sie einsetzte – von der BFH in Biel die Möglichkeit zu einem neunmonatigen Praktikum.

Im Herbst 2014 hat sie nun das dreijährige Medizininformatik-Studium aufgenommen – ein neu geschaffener Ausbildungsgang mit den Schwerpunkten Medizin, Informatik und Management: «Wir lernen, medizinische Kenntnisse mit Programmiersprachen zusammenzuführen und unsere Projekte verkaufen zu können.» Grundsätzlich gehe es um die Lösung des Problems, die Gesundheitsinformationen einer Person mit Hilfe der Elektronik zur richtigen Zeit am richtigen Ort verfügbar zu machen. «Man weiss zum Beispiel, dass in den schweizerischen Spitälern mehr Menschen wegen falscher Medikation sterben als es Tote bei Verkehrsunfällen gibt.»

Der Kampf um den Flüchtlingsstatus

In ihrem Asylgesuch hat Ghazal Sultan am 13. Dezember 2012 geltend gemacht, sie habe mit ihrer Mutter Mitte Oktober die Flucht ergriffen, nachdem es in ihrem Quartier in Aleppo zu Gefechten gekommen sei und sie Drohanrufe von Unbekannten erhalten hätten, weil sie Flüchtlinge unterstützten. Zudem habe sie sich in der Schweiz sofort exilpolitisch zu betätigen begonnen. Ein gutes Jahr später, am 15. Januar 2014 wurde sie zu einem Gespräch ins Bundesamt für Migration eingeladen.

Im Asylentscheid vom 23. Januar 2014 werden ihre Argumente als nicht asylrelevant bezeichnet. Bei den Gefechten im eigenen Quartier handle es sich um eine «Benachteiligung», die «jede Person in vergleichbarer Lage gleichermassen treffen» könne; den anonymen Drohungen hätte sie sich durch Flucht innerhalb von Syrien entziehen können; und bei ihrem Engagement in der Schweiz handle es sich um «allgemeine friedensstiftende Aktionen und Benefizveranstaltungen ohne nennenswerte regimekritische Inhalte». Allerdings: «Da die Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat im gegenwärtigen Zeitpunkt […] nicht zumutbar ist, werden sie in der Schweiz vorläufig aufgenommen. […] Falls die vorläufige Aufnahme aufgehoben wird, müssen Sie die Schweiz wieder verlassen.»

Gegen diesen Entscheid reichte Ghazal Sultan eine Beschwerde ein, die ebenfalls abgelehnt wurde. Damit war der Entscheid definitiv. Seither lebt sie als «vorläufig Aufgenommene» mit einem Ausländerausweis F.

«Die Schweiz ist doch ein demokratisches Land, in dem man – im Gegensatz zu Syrien – seine Meinung offen sagen darf.»

Ghazal Sultan

Als sie am 19. Juni 2014 auf avaaz.org in ihrer Sache eine Petition an das Bundesamt für Migration postet, macht sie eine merkwürdige Erfahrung: Zwar kommen schnell über 400 Unterschriften zusammen, aber ihre schweizerischen Bekannten raten davon ab, die Petition einzureichen. Sie erreiche damit nichts, verärgere bloss die Behörde und riskiere später negative Folgen, sagen sie. Ghazal Sultan bricht ihre Aktion ab, ist aber befremdet: «Die Schweiz ist doch ein demokratisches Land, in dem man – im Gegensatz zu Syrien – seine Meinung offen sagen darf. Und für mich konnte es eben nichts Schlimmeres geben als die Ablehnung des Asylgesuchs und der F-Ausweis.» Sie weiss allerdings, dass sie kein Einzelfall ist: «Von den syrischen Asylsuchenden, die ich kenne, haben gut neunzig Prozent einen F-Ausweis und weniger als zehn Prozent einen besseren.»

Das Gegenteil der Hoffnung hoffen müssen

Für Ghazal Sultan ist klar: «Meine einzige Chance habe ich hier in der Schweiz. In Syrien habe ich keine mehr.» Darum will sie jetzt möglichst schnell ihre Ausbildung abschliessen, eine Stelle antreten, um danach ein unabhängiges Leben führen zu können.

Allerdings sagt sie: «Ich wünsche jeden Tag, dass der Krieg in Syrien möglichst bald fertig ist, auch wenn das schlecht ist für meine Situation hier.» Denn nur wenn der Krieg in Syrien noch lange dauern würde, könnte sich ihr Wunsch nach einem Beruf und einem unabhängigen Leben in der Schweiz erfüllen.