Jutzen in Moll

von Jessica Allemann 20. Januar 2013

Nach Jahrzehnten als Jodler und Dirigent weiss René Bützberger nicht nur Schönes zu erzählen. Missgunst und sture Köpfe würden dem Jodeln ebenso schaden wie zu starre Richtlinien und kraftlose Neuerungsversuche. Aber Bützberger bleibt dem Jutzen treu.

Im Restaurant Weissenbühl treffen wir René Bützberger, den Dirigenten des Jodlerklubs Bern-Stadt. Winterlich-weihnachtlich ist sie noch, die Dekoration in der Beiz, wie man sie in jedem echten Dorfkern erwartet. Und in der die Lokalparteien tagen, sich die Büetzer ihr Feierabendbier gönnen und die Vereine feiern – oder singen, wie der Jodlerklub Bern-Stadt. Am runden Tisch in der Beiz erzählt Bützberger, wie er seine Karrieren, die musikalische und die berufliche, parallel vorantrieb, bis es ihm zu viel wurde. Er gibt Einblick in die Welt des Jodelns und einer Vereinskultur, die mit alten und neuen Herausforderungen kämpft und die vielen fremd und doch eigentlich selbst in der Stadt sehr nah ist. Er erzählt so engagiert, dass die nachfolgende Singprobe mit dem Jodlerklub im Hinterstübli des Restaurants mit einer halben Stunde Verspätung beginnt. Im Chörli im Halbkreis vor ihm stehen seine Frau, die Vorjodlerin des Chors, und seine drei erwachsenen Kinder, «der Grundstock des Klubs», wie er sagt.

René Bützberger:

«Zum Jodeln kam ich über meine Frau. Sie sang und jutzte von klein auf, während ihr Vater sie auf dem Handörgeli begleitete. Als sie angefragt wurde, ob sie für den Jodlerklub Hasle-Rüegsau jodeln wolle, liess sie ihre Eltern die Kinder hüten und nahm mich ins Schlepptau. Als der Dirigent merkte, dass ich ab Noten singen kann, setzte er mich kurzerhand als Stimmbetreuer ein und meinte nach einer Weile: ‹Siehst du, das ist jetzt eben dirigieren.› Mit 45 Jahren besuchte ich also den Dirigentenkurs des Bernisch-Kantonalen Jodlerverbands und begann in verschiedenen Klubs zu dirigieren.

«Ich komme mir vor wie ein Apotheker, der abwägt, von welcher Zutat er noch ein Grämmchen dazu tun und wovon er ein Grämmchen wegnehmen soll.»

René Bützberger, Dirigent Jodlerklub Bern-Stadt

Eines habe ich dabei schnell gelernt: Als Dirigent ist man nicht nur derjenige, der den Takt angibt. Man muss auch zuhören können, Unzufriedenheiten in der Gruppe spüren, sich diplomatisch verhalten, damit man niemandem zu nahe tritt. Wenn ich als Dirigent einem Sänger vor allen anderen sagen muss, dass er falsch gesungen hat, kann das für denjenigen eine grosse Demütigung sein und es wird oft sehr persönlich genommen. Dann muss ich nachher schauen, wie ich das wieder zurechtbiegen kann, dass dieser Sänger wieder auf mich hört und mir verzeiht. Ich muss die Jodler also einerseits zurechtweisen und anderseits ihr Wohlwollen behalten. Ich komme mir manchmal vor wie ein Apotheker, der an einem Rezept tüftelt und abwägt, von welcher Zutat er noch ein Grämmchen dazu tun und wovon er ein Grämmchen wegnehmen soll, damit ich am Ende niemandem zu arg an den Karren fahre und der womöglich noch den ‹Büntel› wirft. Der Lohn für die Anstrengungen ist dann die Anerkennung, die einem entgegengebracht wird, wenn dem Vortrag des Klubs an einem Jodelfest das Prädikat 1, also die Bestnote, zugesprochen wird. Dann weiss man, dass man es gut gemacht hat.»

Vielseitig bis zur Belastbarkeitsgrenze

«Als Zehnjähriger habe ich in der Kadettenmusik Burgdorf mit Trompete angefangen. Damals hat man das halt einfach gemacht  und ich hatte Musik an und für sich gerne. Mein Vater war ebenfalls Trompeter und Präsident der Stadtmusik Burgdorf. Da hatte ich ja kaum eine andere Wahl, als da mitzumachen. Bei einem Auftritt mit der Stadtmusik an der Solennität bin ich während des Marschierens mit meinem abrupt abbremsenden Vordermann zusammengeprallt. Durch den so entstandenen Zahnschaden war es für mich nicht mehr möglich, ein Blasinstrument zu spielen. Also habe ich mich verstärkt dem beruflichen Vorwärtskommen gewidmet. Nach der kaufmännischen Lehre bin ich für zehn Jahre nach Olten gegangen, wo ich mir als kaufmännischer Einkäufer bei der damaligen Usego meine Sporen abverdient habe. Es gab viel zu tun, man stellte auf EDV um und hatte gegen zahlreiche Konkurrenten in der Branche anzukämpfen.

«Die Aufgaben wurden immer grösser, die Zeit dazu immer weniger.»

René Bützberger, Dirigent Jodlerklub Bern-Stadt

Meine beiden Karrieren haben jeweils zur gleichen Zeit Sprünge gemacht. Als ich im Beruf zum Prokuristen aufstieg, erhielt ich gleichzeitig das Diplom zum Dirigenten. Als ich vom Kantonalen Jodlerverband zum Kampfrichter gewählt wurde, wurde ich im Beruf zeitgleich in den Direktorenstand gehoben. Die Aufgaben wurden immer grösser, die Zeit dazu immer weniger. Zeitweise dirigierte ich vier Jodlerklubs neben Beruf und Familie. Damals ging ich nach der Arbeit schnell nach Hause, um zu essen und den Kindern zu sagen ‹tschau, da bin ich›, um gleich wieder, die Noten unter den Arm geklemmt, loszufahren. Um elf kam ich nach Hause, um sieben ging ich wieder los. Das ging so lange gut, bis mir einer da oben zeigte, dass ich die Notbremse ziehen musste. Nach einem Herzvorfall liess ich es erst Mal ruhiger angehen.»

Konkurrenz zwischen den Klubs ist gross

«Die Jodlerklubs kämpfen heutzutage mit grossen Problemen. Besonders in der Stadt ist es zum Beispiel so gut wie unmöglich, Nachwuchs zu finden. Auf dem Land funktioniert das noch eher. Da sagt der eine zum andern: ‹Ich komme zum Singen, wenn du dafür beim Hornussen mitmachst.› Das gibt es in der Stadt nicht. Im Gegenteil, wo es früher noch sicher alleine in der Stadt weit über zwanzig Klubs gab, kämpfen die wenigen, die es noch gibt, um jeden einzelnen Sänger. Die meisten kommen nicht aus der Stadt, sondern von den Nachbargemeinden. Im Jodlerklub Bern-Stadt singt zum Beispiel niemand aus  Bern mit. So stehen wir also auch noch in Konkurrenz mit den Chören dieser Gemeinden und haben dabei schlechte Karten. Wer nimmt schon freiwillig einen längeren Anfahrtsweg in Kauf, wenn er nur hundert Meter neben dem Haus beim Dorfklub zur Probe gehen kann? Über kurz oder lang müssen die Klubs neue Wege finden, um die Formationen noch zustande zu bringen. Sie könnten sich zum Beispiel für ihre Auftritte gegenseitig aushelfen oder fusionieren. Aus zwei dünnen Chörli entstünde so ein guter, starker Klub mit einem schönen Chorklang, der wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen würde.»

Bis alles in sich zusammenfällt

«Zu strukturellen Herausforderungen, die in jeder Organisation vorkommen können, kommen die zwischenmenschlichen Querelen, die einem sowieso schon kleinen Verein den Garaus machen können. Sobald in einer Gruppe weniger als zwanzig  Menschen sind, braucht es unheimlich viel Kitt, um die Gruppe zusammenhalten zu können. 

«Die junge Generation will beim Jutzen womöglich noch Moll-Töne haben.»

René Bützberger, Dirigent Jodlerklub Bern-Stadt

In meinen vierzig Jahren als Dirigent und Mitglied in verschiedenen Vereinen habe ich diesbezüglich nicht nur Schönes erlebt. Missgunst und die brutale Mentalität des Menschen dringen immer wieder durch und treiben eine Gruppe manchmal so weit, dass es ‹chlepft› und alles in sich zusammenfällt. Und dann kommt womöglich noch die neue Generation, die findet, dass diese Lieder von Bergen und Alphörnern, von Kühen und vom Schnee nicht mehr das Wahre seien, und will beim Jutzen womöglich noch Moll-Töne haben.»

Nicht nur ein «Murks», sondern wahre Freude

In den 60er-Jahren hatten wir noch nicht mit diesen Problemen zu kämpfen. Damals war es nicht nur ein ‹Murks›, sondern eine wahre Freude, wenn man mit grossen Gruppen an die Feste gegangen ist und sich die Leute richtig entfalten konnten. Heutzutage ist das Interesse am Brauchtum rückläufig, und ich kann nicht abschätzen, wohin der Weg führt. Ich bin viele Jahre dabei gewesen, habe viele Hochs, aber auch viele Tiefs, viel Gerangel und Missgunst miterlebt. Dinge, die für mich in einem solchen Brauchtum eigentlich keinen Platz haben dürften, weil sie ihm schaden und sein Weiterbestehen gefährden.

Nichtsdestotrotz ist es doch schön, dass ich mit meinen 76 Jahren noch immer dabei sein kann, und erst noch als Dirigent. Aber es wird auch allmählich Zeit, mich damit zu befassen, ins zweite Glied zurückzutreten und den Dirigentenposten freizugeben. Das heisst aber nicht, dass ich ganz vom Parkett verschwinden werde. Solange ich Augen, die sehen, Ohren, die hören, und eine klingende Stimme habe, bleibe ich dem Jutzen treu.»