Weiter geht es mit Chaim Soutine

von Beat Sterchi 23. September 2020
 An dieser Stelle habe ich zuletzt berichtet, dass ich in meinem Gemüsegarten in den Spanischen Bergen den Gurken gut zugeredet habe. Weil sie unter den besonderen Umständen sehr spät im Jahr gepflanzt wurden, wollten sie nicht richtig gedeihen. Es hat genützt. Inzwischen habe ich Gurken mehr als genug. Aber sind diese Gurken vielleicht dumm. Wirklich! Es ist je fast härzig, wie sie ihre feinen Fühler ausstrecken und nach Halt suchen und wie mit kleinen Händchen nach der aufgespannten Schnur greifen. Manchmal ringeln sich diese dazu gedachten Triebe aber um den eigenen Stängel. Der berühmte Baron lässt grüssen. (Siehe: Wer einmal lügt…).
Leider muss ich aber jetzt meine Ernte immer mal wieder mit einem Steinbock, und wie mir scheint, seit ein paar Tagen auch mit einem frechen Dachs teilen.Während der Steinbock vor allem auf Salat steht, hat es der Frechdachs auf die in diesem besonderen Jahr auch sehr spät reifenden Tomaten abgesehen.
Natürlich passiert auch sonst Weltbewegendes in Spanien. Der alte König im Exil, der FC Barcelona im freien Fall und nicht zuletzt die zweifelhafte Ehre, in Sachen Pandemie etliche europäische Statistiken anzuführen. Eine Nachbarin meinte dazu nüchtern, in etwas müsse ihr Land doch auch einmal Spitze sein dürfen. Wobei ich gestehen muss, dass meine allgemeine Skepsis gegenüber dem realen Wert von Statistiken immer noch zunimmt. Was soll man denken, wenn man zum Beispiel liest, 17% (vielleicht waren es auch nur 14%) der Spanier würden dem amerikanischen Präsidenten für seinen Umgang mit der Pandemie gute Noten erteilen. Woher wissen die das und warum werden sie dazu gefragt? Vermutlich wollen diese Befragten vor allem ihre Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Regierung ausdrücken.
Für den Zeitungsleser ist es allerdings alles andere als erbauend, zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie unbedarft seine Mitmenschen sein können. Viel hat sich diesbezüglich über die Jahrhunderte offensichtlich kaum geändert. Neulich wurde im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen die aus gutem Grund neu erlassenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in der Zeitung La Vanguadia der grosse spanische Satiriker Quevedo zitiert. Schon vor mehr als 300 Jahren behauptete dieser, alle, von welchen man vermute, sie seien Idioten, seien es und die Hälfte aller, bei denen man es nicht vermute, seien es auch. Von der anderen grossen Spanischen Zeitung «El Pais», die ich in diesen besonderen Zeiten digital abonniert habe, bekam ich neulich eine freundliche Mailnachricht, in welcher man mir und allen anderen Abonnenten aufrichtigen Dank aussprach. So erfuhr ich, dass «El Pais», dieses Weltblatt mit einer publizistischen Vormachtstellung in sämtlichen spanischsprechenden Gebieten auf vier Kontinenten, sich mit 120 000 digitalen Abonnenten glücklich schätzen muss. Spanien allein zählt über 40 Millionen Einwohner und die wichtigste Zeitung geniesst eine derart beschämend kleine Verbreitung. Das macht Angst. Als müsste man sich darauf einstellen, dass die wesentlichen Informationsquellen am Versiegen sind.
 
Und was hat Chaim Soutine damit zu tun? Wir leben einmal mehr in schmerzhaft ungerechten und schmerzhaft schwierigen Zeiten. Grosse Teile der spanischen Bevölkerung eint schon jetzt nur noch der Schmerz über den Verlust von in mangelhafter Betreuung verstorbener Angehörigen, aber auch der Schmerz über den Verlust von Arbeit und Würde. Und nichts ist ausgestanden. Der Schmerz wird weiterwachsen. Und Soutine ist ein Meister des Schmerzes.Dem Schmerz am eigenen Leib, aber auch dem Schmerz einer fürchterlichen Kindheit zum Trotz, schuf Soutine ganz grosse, wenn sehr oft auch schmerzhafte Kunst. In dem Bild “Le Pâtissier de Cagnes,” porträtierte er den Küchenburschen Remi Zochetto aus Céret, einer kleinen Stadt am Fuss der französischen Pyrenäen. Eigentlich spricht das Bild für sich, aber dennoch möchte ich erwähnen, dass dieser Junge das rote Taschentuch genau dort festhält, wo im Bauch des Künstlers ein Magengeschwür wucherte, an welchem er sein Leben lang litt und an welchem er auch starb. Natürlich ist Soutine ein Künstler, den man kennt, dem man in grossen Museen immer wieder begegnet ist, dass ich mittlerweile aber weiss, wie bedeutend dieser Chaim Soutine wirklich ist und welch unglaubliches Schicksal er gelebt hat, verdanke ich dem Roman «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli. Gracias.