Wenn die Literaturkritik Stimmung macht

von Guy Krneta 1. Juni 2019

Übers Wochenende finden die Solothurner Literaturtage statt. Bereits im Vorfeld wollen Medien «klaffende Lücken» im Programm ausgemacht haben. Statt das Interesse darauf zu richten, was ein Publikum erwartet und welchen selbst erklärten Ansprüchen die Programmierung zu genügen hat, wird ein Skandalon herbeigeschrieben.

Das Vorgehen ist bekannt. Bei jeder grösseren Preisverleihung findet es mittlerweile statt: Die Auswahl sei fragwürdig, Renommiertere und Gewichtigere seien übergangen worden. Ganz ins Leere läuft der Vorwurf nie. Es liegt in der Natur einer Auswahl, dass sie Wenige berücksichtigt und Viele übergeht.

Das Elend der Literaturkritik

Ja, die Literaturkritik hat heute einen schweren Stand. Redaktionen werden verkleinert, der Platz schrumpft. Kritiken würden nicht gelesen, behaupten die Chefs und berufen sich auf Klickzahlen. Versucht sich das Feuilleton nun Aufmerksamkeit zu verschaffen, indem es wie die Politberichterstattung skandalisiert, auf Personen spielt, angebliche Missstände aufdeckt, Konflikte schürt? Oder fühlt sich eine Kritikerin, ein Kritiker schlicht in der Eitelkeit verletzt, wenn eine unabhängige Jury anders entscheidet, als er oder sie das gerne hätte?

Dabei ist es ja gar nicht so, dass die verbliebenen Festangestellten an Präsenz verloren hätten, im Gegenteil. Sie schreiben heute für Zentralredaktionen, welche im einen Fall die Regionen Bern, Basel, Zürich, Winterthur, im anderen St. Gallen, Luzern, Zug und den Aargau bis nach Basel abdecken. Gesamtleser*innenzahl in beiden Fällen je um die 600’000. Ausserdem sitzen sie in Jurys, moderieren Literaturveranstaltungen (u.a. an den Solothurner Literaturtagen) oder äussern ihre Meinung in Literatursendungen am Schweizer Fernsehen.

Es soll über jene geredet werden, die fehlen

Üblicherweise ist es der Kritiker des «Tages-Anzeigers», der den Ton angibt. Diesmal übernahm die «Aargauer Zeitung» die Methode. Kritikerin Anne-Sophie Scholl traf die Geschäftsführerin der Solothurner Literaturtage Reina Gehrig zum Interview. Ein «konfrontatives» Gespräch sollte es sein. Die «Konfrontation» bestand darin, die Geschäftsführerin sich rechtfertigen zu lassen, warum bestimmte Namen im Programm nicht auftauchten. Da stecke eine gewisse Systematik dahinter, unterstellte die Kritikerin. Die Geschäftsführerin wies (einmal mehr) darauf hin, dass die Literaturtage anders als andere Festivals nicht von einer künstlerischen Leitung kuratiert werden. Strenge Richtlinien gibt es nicht. Es werde diskutiert und zwar innerhalb einer zehnköpfigen Programmkommission, die alle zwei Jahre wechselt.

Machtstrukturen im Literaturbetrieb

 Damit gab sich die Kritikerin jedoch nicht zufrieden. Sie beauftragte die nach Solothurn nicht eingeladene Autorin Corinna T. Sievers, über «Machtstrukturen im Literaturbetrieb» zu schreiben. Die Nichteingeladene sollte nun öffentlich begründen, warum sie «zwingend» hätte eingeladen werden müssen und aus welchen systemischen Gründen das leider nicht der Fall sei. Ein desaströser Auftrag. Und erstaunlich, dass ihn Sievers, vermutlich noch unter Zeitdruck, angenommen hat.

Doch mit den Literaturtagen scheint sie sich nicht weiter befasst zu haben. «In Entscheider-Positionen» sässen «nur 20 Prozent weibliches Personal» zitiert sie eine nicht genannte Studie bzw. die Autorin Nina George: «Alte, weisse Männer» verstopften Jurys und Fördergremien. Zwei Klicks hätten genügt, um auf der Website der Literaturtage festzustellen, dass die Solothurner Programmkommission aus 5 Frauen und 5 Männern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Sprachen besteht (ja, bezüglich Hautfarbe gibt es Nachholbedarf).

Medienpräsenz als Ticket für Solothurn

Eine andere Studie komme zum Schluss, dass «männliche Literaturkritiker zu 76 % Bücher männlicher Autoren» besprechen würden und Literaturkritikerinnen ihrerseits wiederum zu 52 % Männer. Das erscheint alles, auch wenn ohne Quellenangabe, plausibel. Ein bisschen irritierend ist allerdings, dass die Autorin ausgerechnet ihre eigene hohe Medienpräsenz und die zweier Kolleginnen anführt, um aufzuzeigen, mit welcher dringlichen Berechtigung sie nach Solothurn hätte eingeladen werden müssen: «…Spiegel-Bestsellerliste, Lobeshymnen in Zeit, FAZ, NZZ… SRF 52 beste Bücher…». Soll da einer unabhängigen, paritätisch besetzten Programmkommission etwa mit männlich dominierter Medienresonanz Eindruck gemacht werden?

Eingerahmt werden Sievers zusammengeklaubte Zitate durch die rührige «Geschichte» einer 22-jährigen «Lena oder Lara», die am Literaturinstitut in Biel studiert habe, sich von einem «Verleger» einreden lasse, «wirklich begabt» zu sein und sich von diesem, «weil es ja für irgendwas gut sein muss, eine Frau zu sein», auch mal die Hand aufs Knie legen lasse. Offenbar kennt Corinna T. Sievers weder jüngere Autorinnen, die in Biel studiert haben, noch die in Kleinverlagen organisierte ums Überleben kämpfende Schweizer Buchbranche. So werden ihre «grundsätzlichen» kulturpolitischen Überlegungen entlarvend zur Vorabend-Soap.

Leerstellen – aber bei wem genau?

Und wie es sich für die herdengetriebenen Medienschaffenden gehört, nimmt ausgerechnet der «alte weisse Mann» vom «Tages-Anzeiger», Martin Ebel, der seit Jahren Sendeplätze und Jurys «verstopft», den Ball auf: «Was die Programmkommission dieses Jahr zusammengestellt hat», schreibt er, sei «voller schwer erklärbarer Leerstellen». Schwer erklärbar ist das Verfahren, wie es Reina Gehrig im Interview schildert, eigentlich nicht, aber offenbar schwer begreifbar für einen Literaturkritiker, dessen Alltag darin besteht, seinerseits das Gros der literarischen Produktion auszublenden. – Der Germanist und Literaturvermittler Benjamin Schlüer kontert auf Twitter: «Wenig überraschende, aber billige Kritik am Programm der @SOLiteraturtage von Martin Ebel: Einige wichtige Autorinnen würden übergangen – diese Behauptung passt ironischerweise wie die Faust aufs Auge, wenn man Ebels Liste von Rezensionen ansieht…».

Ein Kritiker muss naturgemäss ausblenden. Dass er sich dann aber nicht freut, bei einem Festival mit möglicherweise übersehenen Dingen konfrontiert zu werden, sondern die Machthebel in Gang setzt, um sich darin bestätigt zu sehen, das einzig Relevante nicht verpasst zu haben, zeugt doch von einer ziemlichen Ignoranz.