Weiter geht es mit Maruja Mallo

von Beat Sterchi 9. November 2017

Ergibt sich in einer sehr vielschichtigen historischen Entwicklung ein Interessenkonflikt zwischen zwei oder mehreren Parteien, kann es vorkommen, dass sich eine Partei aus Mangel an überzeugenden Argumenten darauf versteift, den eigenen Interessen zuwiderlaufende Fakten aus der Diskussion zu verbannen. Da lese ich in einer Zeitung zum Beispiel, was einem gewissen Monsieur nachgesagt wird: Der Monsieur habe «die unheimliche Fähigkeit, offenkundige Tatsachen in Abrede zu stellen». Trotzdem schaffte es dieser Monsieur, in eines der bekanntesten Häuser in Washington einzuziehen. Ein Grund, warum er dies geschafft hat, liegt darin, dass dieser Monsieur zwar die Lüge zur Tugend erhob und allen das Blaue vom Himmel herab versprach, aber die Emotionen, die er damit weckte, waren für viele absolut echt und real und offensichtlich beliebter als trockene Tatsachen. Und wer meint, Träume und Hoffnungen seien ohne Bedeutung, bloss weil sie sich auf Unwahrheiten stützen und sich nicht erfüllen lassen, kann nicht nur in den USA, sondern auch in England und in Katalonien erkennen, dass dem nicht so ist. Vermutlich gilt es, sich von der Vorstellung eines öffentlichen Ringens um Vernunft und Wahrheit zu verabschieden. Die Emotion, genauer gesagt, das Gefühl, wie marginal auch immer, selbst irgendwie impliziert, betroffen und dadurch Partei zu sein, überstrahlt und negiert die pickelfestesten Fakten. Kommt noch die Aussicht dazu, möglicherweise das identitäre Selbstwertgefühl zu steigern, ist der Zug abgefahren und die Meinung gemacht.
Zu diesem Schluss komme ich unter anderem auf Grund meiner Gespräche mit katalanischen Nachbarn, die ich während meines  langen Sommers in Spanien geführt habe. So vermessen wie das auch klingen mag, wann immer ich versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, bemerkte ich, dass die meisten fast nichts wussten oder meinten, mir Neuigkeiten überbringen zu müssen, von welchen ich schon Tage zuvor gelesen hatte. Auf die Frage, warum sie eigentlich für die Unabhängigkeit sei, antwortete mir einmal eine Bekannte: Weil sie schon immer dafür gewesen sei! Die Antwort fiel nicht etwa so kurz und so knapp aus, weil sie meinte, für mich würde das reichen. Nein, ich hatte nachgehakt und weiss es genau: Da war nicht mehr! Sie strahlte und lachte, denn ihr reichte das vollkommen. Sie wusste auf welche Seite sie gehörte.
Bei einem andern katalanischen Nachbarn, mit welchem ich fast täglich ein paar Worte wechselte, fiel mir plötzlich auf, dass er eigentlich über die dramatischen Entwicklungen sprach, als wäre es ein Fussballspiel. Als grosser Fan des FC Barcelona hatte er schon manchen Triumph feiern können und war überzeugt, dass sich der Präsident seiner Regionalregierung plötzlich als Lionel Messi der Politik entpuppen und aus dem unmöglichsten Winkel das vermeintlich unmögliche Siegestor schiessen würde. Und sollte mein Nachbar aus nächster Nähe selbst gesehen haben, dass dieses Siegestor aus einer zweifelsfreien Abseitssituation geschossen wurde, würde er wütend werden und absolut parteiisch über seinem Kopf mit den Fäusten fuchteln und das Gegenteil behaupten. Wie das im Fussball ja gang und gäbe ist.
Was es aber bei diesem Spiel wirklich zu gewinnen oder zu verlieren gibt, darüber schien er nie nachgedacht zu haben. Musste er auch nicht. Denn man kann Argumente so verkürzen, dass am Schluss nur noch eine Fahne oder eben, Farben übrig bleiben. Farben, zu denen man sich bekennt, die auf Zugehörigkeit verweisen und die damit alles sagen, weil es mehr nicht zu sagen gibt. Wie beim Fussball. Hier ist die eigene Mannschaft und dort der Gegner!
Sicher ist deshalb, dass man das bunte Wehen der katalanischen Fahnen weder verharmlosen noch romantisieren sollte. Die Fahnen sind vielleicht ein Geschenk für Pressefotografen und Fernsehjournalistinnen, aber sie sind ganz bestimmt nicht Ausdruck eines «fröhlichen Patriotismus» wie im «Spiegel» jemand mit einem grossen Namen meinte schreiben zu müssen. Vielmehr ist die Fahne die geistige Verkürzung schlechthin und kommt besonders jenen entgegen, die eigentlich keine Ahnung haben, worum es geht. Schlimmer ist nur noch der Holzhammer. Wer sich seine Sympathien für solche populistischen Auswüchse nicht verkneifen kann, dem sei ans Herz gelegt, sich einen Bundesplatz in Bern mit Tausenden in Schweizerfahnen gehüllten Jugendlichen vorzustellen.
Wem da nicht graust!
Und was hat Maruja Mallo damit zu tun?
Ich begegnete dieser spanischen Malerin in einer grossen Bildreportage in «El Pais». Maruja Mallo hiess eigentlich Ana María Gómez González, wurde 1902 in Galicien geboren, führte ein ziemlich spektakuläres Leben und starb1995 in Madrid, nachdem sie auf verschiedenen Kontinenten so ziemlich alles getan hatte, was Frauen damals nicht hätten tun dürfen.
Das Bild der Traube stach mir sofort ins Auge. Aha, dachte ich, ein weiterer Beweis, dass entgegen der katalanischen Propaganda, aus Spanien auch Gutes und Schönes kommen kann.