Casablanca

von Gerhard Meister 20. Mai 2016

Vor ein paar Tagen informierte eine kleine Meldung in der Tageszeitung über den Tod von Madeleine LeBeau und damit über die Tatsache, dass nun keine der Schauspielerinnen und Schauspieler mehr am Leben sei, die im Film Casablanca mitgemacht haben.

Nun hat es einen gewissen humoristischen Wert, dass der Tod dieser Schauspielerin überhaupt in die Zeitung gefunden hat. LeBeau hat zwar tatsächlich in einer kleinen Rolle in Casablanca mitgespielt – und später noch in ebenfalls kleiner Rolle in einem Film von Fellini – aber weiter ist ihre Filmkarriere nie gegangen.

Gut möglich, dass ihr Tod keine Nachricht wert gewesen wäre, wenn sie eine ihrer Kolleginnen oder Kollegen um ein paar Jahre überlebt hätte und sie nur als zweitletzte oder gar drittletzte der Schauspieler aus Casablanca gestorben wäre.

Ich habe zwar in der Zeitung auch schon gelesen, dass jetzt der letzte Veteran des Ersten Weltkriegs gestorben sei oder nur ein einziger Mensch lebe, der noch im 19. Jahrhundert geboren wurde. Von Filmen aber hatte ich bisher ähnliches nicht gehört.

Dabei muss es Dutzende von Filmen geben, die mir wenigstens dem Namen nach etwas sagen und von deren Schauspielern wie bei Casablanca jetzt auch keiner mehr lebt.

Und natürlich gibt es immer mehr von diesen Filmen. Filme, in denen tote Schauspieler auftreten, werden immer mehr, Filme mit lebenden Schauspielern vergleichsweise immer weniger, ja schliesslich, in the very long run verschwinden die Filme mit lebenden Schauspielerin unter der Masse von Filmen, in denen Tote zu einer geisterhaften Existenz erwachen. Die einem eigentlich unangenehm sein müsste, wenn nicht unheimlich, wie alles, was die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt.

Vor kurzem las ich – aber ich weiss nicht mehr bei welchem Schriftsteller oder ob es vielleicht sogar nur die Figur aus seinem Roman war – jedenfalls las ich von jemandem, dem es unheimlich ist, sich die historischen Filmaufnahmen von den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin anzusehen, und das nicht, weil Hitler im Stadion ist, sondern weil dort Zehntausende von Toten zu anfeuerndem, jubelndem und buhendem Leben erwachen, sobald der Film abläuft.

Ist jemand etwas überspannt oder sogar neurotisch, wenn er Mühe hat mit Filmen, in denen Menschen zu sehen sind, die schreien, Reden halten, miteinander diskutieren, kurz alles Menschliche und Menschenmögliche miteinander tun und treiben und das quicklebendig, obwohl sie in der Zwischenzeit längst gestorben sind?

Und ist es umgekehrt völlig normal, dass man sich auf youtube anschaut, wie Max Frisch mit Kurt Furgler diskutiert, ohne es einen Augenblick seltsam zu finden, den beiden bei diesem Gespräch zuschauen und zuhören zu können, obwohl sie doch beide seit Jahrzehnten tot sind?

Sind Filme eine Art Auferweckungsapparat, der die Menschen, die wir dort sehen, ins Leben zurückholt, während das Wissen, dass sie in Wirklichkeit tot sind, durch den gleichen Vorgang verdrängt und ein Stück weit auch in Frage gestellt wird?

Oder haben wir mit Toten in Filmen kein Problem, weil wir uns den Tod sowieso nicht vorstellen können, er für uns nicht wirklich Realität besitzt?

Im Unbewussten sind wir alle unsterblich, hat Freud gesagt und ich hab’s jetzt hingeschrieben.

Und es kommt der Moment, in einem Jahr, in zehn, wo ich mir wieder einmal Casablanca anschaue. Dass in diesem Film auch eine Madeleine LeBeau mitspielt, werde ich bis dahin bestimmt vergessen haben. Und dass alle längst gestorben sind, denen ich zuschaue und zuhöre, wie sie in Rick’s Café die Marseillaise anstimmen, wird mir, ich möchte darauf wetten, nicht eine Sekunde Anlass zu irgendwelchen Gedanken sein.