Dieser Niqab ist kein Iro

von Gerhard Meister 25. Februar 2016

Vor kurzem sah ich zum ersten Mal im Bus auf dem Weg nach Hause eine Frau mit Niqab, also jener Kleidung, die nur einen schmalen Schlitz für die Augen offen lässt.

Schon vorher hatte ich in Zürich Frauen mit Niqab gesehen, reiche Touristinnen, die sich mit teuren Stoffen verhüllten, teure Handtaschen und teure Schuhe trugen und in deren Sehschlitzen teure Brillen steckten, der Anblick hatte für mich etwas Erheiterndes.

Ganz anders die Frau im Bus, unterwegs ins Quartier, wo sie und wo ich ein paar hundert Meter voneinander entfernt wohnen. Der Stoff ihrer Kleider waren billige Tücher, ihre Schuhe abgetragen und ärmlich, der Anblick war nicht erheiternd, sondern niederschmetternd, kein Quäntchen karnevaleske Fröhlichkeit. Zu diesem Eindruck beigetragen hat vielleicht, dass sie ihren kleinen Sohn bei sich hatte, zu dem sie kaum hörbar redete, er selber gekleidet wie alle anderen kleinen Buben im Quartier, aber sichtlich verunsichert davon, dass seine Mutter von allen angestarrt wird.

Warum erzähle ich das? Und warum so, wie es oben geschrieben steht?

Klar ist, wer über eine Frau im Niqab schreibt, der betreibt Politik, ob er will oder nicht. Im Zusammenhang mit dem Islam und was er mit sich bringt, ist heute jede Äusserung politisch und dann also je nachdem ein Statement für Toleranz oder Islamophobie.

Ich habe keine Lust, einen islamophobischen Text zu schreiben, nicht weil der Islam mir als Religion besonders sympathisch wäre (aber wohl auch nicht unsympathischer als das Christentum), sondern weil es bei Islamophobie meistens nicht um den Islam geht, sondern um Fremdenfeindlichkeit. Deshalb soll dieser Text auch nicht, wohin er im Weiteren noch führen mag, mit einer Parteinahme für ein Verhüllungsverbot verwechselt werden.

Also ein Statement für Toleranz und wacker losgeschrieben frei nach Voltaire: Ich finde zwar deine Kleidung fürchterlich, werde aber mein Leben einsetzen dafür, dass du sie tragen kannst?

Sein Leben einsetzen wie Voltaire, das möchte man natürlich nicht, und will ich mich hier für Toleranz stark machen, wo offensichtlich selbstschädigendes Verhalten vorliegt?

Wer nicht anders als so verhüllt aus dem Haus geht, der hat seine beruflichen Möglichkeiten bei uns auf Null reduziert. Ähnlich wie jemand, der sein Gesicht zutätowiert oder vollpierct. Gut, könnte man sagen, es gibt eben ein paar Leute, die nicht anders können und wollen als ihr Gesicht zu zu tätowieren oder es voll zu piercen, aus welcher Lust oder Not heraus auch immer. Und jetzt ist zum Tätowieren und Piercen eben noch der Niqab dazu gekommen, was soll’s? – jeder soll auf seine Facon selig werden, um noch eine zweite klassische Formulierung des Toleranzgedankens hier unterzubringen.

Ist es wirklich so einfach? Kann man diese Dinge überhaupt miteinander vergleichen? Und bedeutet das Tragen eines Niqab wirklich in jedem Fall selbstschädigendes Verhalten, für das das Angebot von Hilfe näher liegt als Toleranz?

Es gibt doch noch die Frau Ulli vom Islamischen Zentralrat, die ihr Gesicht auch zugedeckt hat und trotzdem ständig Interviews gibt in Zeitungen und im Fernsehen und aufmüpfig und selbstbewusst ihre Meinung verkündet. Aber Frau Ulli war mit 17 Punk, bevor sie konvertierte, und es macht ihr offensichtlich Freude, dass ihr neues Outfit den Leuten mehr einfährt als der Iro von früher.

Von dieser Freude war beim Menschen, dem ich im Bus begegnet bin, nichts zu merken. Und dass sich hinter dieser Verhüllung auch Aufmüpfigkeit und Selbstbewusstsein verbergen, die sich vielleicht bald schon in einem ganz anderen Äusseren zeigen, war kaum vorstellbar.

Es fällt sehr schwer, hier etwas anderes zu sehen, als die stumme Ergebung in den Willen eines Gottes, der dieses Opfer offenbar verlangt. Aber eben, ich bin nur am Vermuten und ausschliessen lässt sich hier eigentlich nur eines: Dass sich hinter den Tüchern ein Mann verbarg.

Dieser Gott also verlangt das Opfer nur von Frauen, ihnen schreibt er eine Kleidung vor, die sie in ihrem öffentlichen Leben stark einschränkt. Eine Frau soll im Haus für alles, ausser Haus für nichts zu gebrauchen sein. So der griechische Dramatiker Euripides. Was ist eine solche Forderung, die Frauen auf Haushalt und Kinder reduziert, anderes als sexistisch? Und was macht es besser, wenn diese Forderung offenbar von einem Gott kommt?

Und bin ich nun, wenn ich mich gegenüber diesem Gott nicht als tolerant erweise, islamophob? Selbstverständlich, denn der Gott, der dies verlangt, ist Allah. Es ist zwar nur eine bestimmte Vorstellung von Allah und eine, die unter den Muslimen in der Schweiz praktisch nicht vorkommt. Aber eine Spielart des Islam ist es eben doch, so wie auch die Mordkampagnen des IS eine Spielart des Islam verkörpern, Mordkampagnen, die sich bekanntlich vor allem gegen Muslime richten, und natürlicherweise von der überwältigenden Mehrheit der Muslime abgelehnt wird. Insofern ist die überwältigende Mehrheit der Muslime islamophob.

Das ist zwar absurd, aber die Logik lässt nichts anderes zu, solange von dem einen Islam gesprochen wird und das ist genau das, was in der politischen Debatte passiert. Rechts schert man sich nicht darum zu differenzieren, hier besteht ja eben gerade das Interesse, den Islam als Ganzes zu diffamieren. Wir auf der anderen Seite, im berechtigten Kampf gegen diese Diffamierung, versuchen den Islam als Ganzes zu exkulpieren, indem wir von allem, was am Islam problematisch ist, behaupten, es habe mit dem Islam nichts zu tun.

Das geschieht zum Teil aus Angst (man will ja nicht unter den Verdacht der Islamophobie geraten), zum Teil aus – berechtigtem – politischem Kalkül. Damit aber wird die Wahrheit verdrängt, dass Religion neben allem Guten und Grossartigen, was sie leisten kann, auch ihre unbegreifliche und manchmal verabscheuungswürdige Seite hat.