Der Mensch ist im Prinzip Allesverzehrer (Teil 1)

von Guy Krneta 16. Dezember 2015

Zu Ruedi Häusermanns vier Mal gescheiterter «Ersten Nationalen Menschenausstellung» (1999-2004).

 

Vielleicht wäre es Ruedi Häusermanns Hauptwerk geworden: Jenes dadaistisch-philosophische Gesamtkunstwerk, das in Form einer Ausstellung alle Gattungen vereinigt und zu einem Erlebnis eigener Art gestaltet hätte. Ein leises Spektakel mit über 500 Beteiligten zur Jahrtausendwende, bestehend aus liebevoll gearbeiteten Szenen, Installationen, Musikstücklein, Objekten. Und vielleicht hätten sich die Bewohner dieses Landes noch Jahrzehnte später lachend erzählt vom Blasorchester im Glaskasten, dem aufrechten (Ein-)Gang, dem wenige Meter hohen «Freizeitberg», an dem die Wanderer auf der einen Seite hochgekrabbelt und die Skifahrer auf der anderen Seite heruntergerast wären, vom «Lebensbogen», bestehend aus 40 lesenden und fein choreographierten Statistinnen und Statisten unterschiedlichsten Alters.

Nein, Menschen sollten hier nicht ausgestellt werden. Doch mit der Erwartung wurde gespielt, den Assoziationen an kolonialistische Menschenzoos, plastinierte «Körperwelten», «Weltausstellungen» und die Landschaften von «Suisse miniature». Die Idee dazu hatte Ruedi Häusermann, als er mit einem seiner Söhne eine Kanarienvogelausstellung besuchte. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügte er dem Titel gleich die ironische Klammer «nur Einheimische» an. Häusermann hatte nicht vor, Vorurteile zu bewirtschaften. Er wollte den «Einheimischen» die befremdliche Art der «Einheimischen» zeigen. Oder um es in seinen Worten zu sagen: «Wir gehen von der naiven Annahme aus, dass der Besucher von der Spezies Mensch überhaupt noch nichts weiss. Wir inszenieren eine vorsichtige Annäherung an dieses Wesen.» Und der Besucher hätte dann erlebt, wie er selber zum Objekt der Ausstellung geworden wäre.

Mehrfach gescheitert

Zur Eröffnung des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL), in Zusammenarbeit mit dem Luzerner Theater, hätte die «Menschenausstellung» 1999/2000 ein erstes Mal stattfinden sollen. Dann brach der Fussboden ein, die Eröffnung des KKL war gefährdet. Auf der Strecke blieb die «Menschenausstellung». Ein zweiter Anlauf wurde 2001 am Zürcher Schauspielhaus unternommen. In Zusammenarbeit mit Gérald Mortiers Ruhrtrienale sollte das Grossprojekt Christoph Marthalers Schiffbau mit eröffnen. Die Kosten wurden auf 3,66 Mio Franken veranschlagt. Es fehlten 1,26 Mio Franken, bei einem ohnehin schon angespannten Theateretat und dem Defizit beim Schiffbau-Umbau. Die Leitung zog die Notbremse. In der Zwischenzeit hatte sich auch die Expo 02 für das Projekt interessiert. In Zusammenarbeit mit dem Kanton Aargau und dem Luzerner Theater war die «Menschenausstellung» als zweimonatiges Gastspiel auf der Arteplage Yverdon-les-Bains geplant. Wieder scheiterte die Sache an der Finanzierung. Schliesslich wagte Gérard Mortier einen Befreiungsschlag. In der Vorschau auf das Programm 2003/2004 kündigte die Ruhrtrienale frisch-fröhlich an: «Das komische und traurige Phänomen des Homo sapiens in einem spektakulären Ausstellungs-Event von Ruedi Häusermann mit 900 Mitwirkenden.» Doch auch diesmal blieb die Realisierung im Stadium der detallierten Sitzungsplanung stecken.

Dadurch dass Häusermann vier Mal Anlauf genommen hat, ist seine «Menschenausstellung» bestens dokumentiert, fast so, als hätte sie tatsächlich statt gefunden. An der Grundkonzeption ändert sich wenig über die Jahre, je nach räumlichen Gegebenheiten wechselt die Abfolge der einzelnen Räume, der Grad der Konkretisierung nimmt weiter zu. Pläne, Skizzen, Modelle, Fotos und Ideensammlungen zeugen davon, wie intensiv Häusermann und sein Team – zu nennen sind vor allem die Bühnenbildnerin Marie-Isabel Vogel, der Architekt Alain Rappaport und der Lichtdesigner Uli Schneider – in all der Zeit grösstenteils unbezahlt gearbeitet haben. Auch erste szenische Proben haben bereits stattgefunden.

So wenig Häusermann seine Musik auf dem Papier zuende komponiert – um mit den Musikerinnen und Musikern an den realen Instrumenten jene schwebenden Zwischentöne zu entdecken, denen er auf der Spur ist –, so sehr braucht Häusermann in der szenischen Arbeit das Gegenüber der Darstellerinnen und Darsteller. Die Idee war, sämtliche szenischen Vorgänge mit einem Kernteam von Profis zu entwerfen, zu dokumentieren und dann mit den vielen hundert Beteiligten einzustudieren.

Arbeiten für etwas, das im Kopf bleibt

Ruedi Häusermann ist einer, der sich bei der Projektentwicklung Klaviaturen schafft, auf denen er im Weiteren immer virtuoser zu spielen beginnt. Seine Projekte sind gestaltete Prozesse, die er bis in die Arbeit am kleinsten Detail als Spielfeld begreift. Die Frage, ob die «Menschenausstellung» nicht auch billiger zu haben gewesen wäre, beantwortet er mit einem selbstverständlichen «Nein»: «Dienicht, aber etwas Anderes schon.» Er verweist darauf, dass er viele kleine Projekte realisiert habe und dass sich das Wesen der «Menschenausstellung» eben nur in der geplanten Grösse entfalten würde. Der liebevoll gestaltete Überfluss hätte das Projekt zu dem gemacht, was es gewesen wäre.

Ruedi Häusermann arbeitet aus der Vielzahl an Möglichkeiten heraus und erweitert sie bis in die praktische Unmöglichkeit. Das macht die Faszination an seinen nicht realisierten oder wie er sagt «gescheiterten» Projekten aus: Hier zeigt sich seine Arbeitsweise exemplarisch. – «Zuletzt vermischt sich das, was du gemacht hast, und das, was du nicht gemacht hast. Gedacht hast du beides ». So gehört das «Gescheiterte» mit zum Werk und bildet – nach einer schmerzhaften Phase des «Entliebens» – Keimzellen für nächste Projekte. Häusermanns Arbeiten speisen sich aus dem sich stets erweiternden Ruedi-Häusermannschen Bilder-Töne-Räume-Sätze-Kosmos, auf den die Arbeiten ihrerseits wieder zuwirken. Und es könnte eine eigentliche Werkgeschichte der gescheiterten Projekte Häusermanns verfasst werden, von denen erstaunlich viele in Berlin (nicht) stattgefunden haben: Von der Bespielung des leerstehenden Staatsratsgebäudes der abgewickelten DDR am Alexanderplatz (Scheitergrund: «Höhere Gewalt») über die Eröffnung der Spielstätte Prater an der Kastanienallee (Scheitergrund: «Menschliches Versagen») bis zur Neujahrsproduktion an der Deutschen Oper unter dem später wieder und anders verwendeten Titel «Vielzahl leiser Pfiffe» (Scheitergrund: «Intendant abgesetzt»).

Etliche Ansätze und Ideen, die bei der «Menschenausstellung» entwickelt wurden, tauchen in späteren Arbeiten auf: Im Beitrag zum Projekt «X-Wohnungen» in Fribourg 2007 – Häusermann stellte den Bewohner einer Zweizimmerwohnung aus, dessen Lebensspuren beobachtet werden konnten, während der Bewohner selber in der Küche sass, Gitarre spielte und per Fernseher mit leichter Verzögerung die Ausstellungsbesucher beobachtete –, in «Ängelrain», dem Lenzburger «Bevölkerungstheater» (2006), oder auch im Ländler-Stück «Eidg. Moos» (2011). Das mag ein wenig darüber hinwegtrösten, dass es die «Menschenausstellung» in dieser Form nie gab, lässt aber auch erahnen, welches Glück es gewesen wäre, wenn Ruedi Häusermanns heimliches Hauptwerk hätte realisiert werden können – und zwar tatsächlich zur Jahrtausendwende.

Beitrag für das eben im Verlag «Theater der Zeit» erschienene Buch «Umwege zum Konzert».

Lesen Sie morgen Teil 2: Wie es gewesen wäre.