Neue Granaten

von Gerhard Meister 9. Oktober 2015

Falls es einem Schreiber von Geschichten einfallen sollte, seiner Hauptfigur schon im ersten Satz den Arm abfallen und aus dem Stumpf heraus das Blut in einer Fontäne spritzen zu lassen…

…wie man sie von Staumauern kennt, wo die Schleusen geöffnet sind, dann ist das natürlich schon eine Einschränkung, was den weiteren Handlungsverlauf angeht.

Aber auch vom Genre hat man sich mit sowas die meisten Wege verbaut. Eine romantische Komödie ist eigentlich nicht mehr möglich, eine feinfühlige Charakterstudie kann man auch vergessen, ausser die Hauptfigur ist historisch und landet im Schützengraben, wo ihr irgend ein grossformatiger Granatensplitter den Arm abtrennt, was den Blutfluss auslöst, mit dem die Geschichte als einem Vorgriff auf das blutige Ende einsetzte.

Dass es Splitter in Form tellergrosser Scheiben mit rasiermesserscharfem Rand gibt, die ganze Arme sauber abtrennen – und je nach Anflugwinkel, wie man annehmen muss, auch entsprechend andere Körperteile, weiss ich aus Jean Echonoz’ knapp hundertseitigem Weltkriegsroman mit dem Titel 14. Vor der Lektüre dieses Romans konnte ich mir als buchstabengläubiger Mensch Splitter immer nur als Splitter vorstellen, also als irgendwie längliche Gebilde, die stechen, wenn man sie auf die Haut bekommt.

Die Szene mit dem Scheibensplitter ist ein absurder Höhepunkt im schmalen Weltkriegsroman (was natürlich seinerseits eine Absurdität darstellt, den ganzen Weltkrieg auf 100 Seiten schildern, aber Echonoz gelingt das!), in der dem Helden, immer noch unter dem Schock, den einen Arm verloren zu haben, die Gratulationen und auch den Neid seiner Leidensgenossen im Schützengraben entgegenfliegen. Ein sauber abgetrennter Arm ist das Beste, was einem hier passieren kann. Man ist am Leben und fast noch ganz und darf doch nach Hause und muss nie mehr an diesen fürchterlichen Ort zurückkehren.

Nun könnte natürlich ein Entwickler von Kriegsgerät darauf kommen, Granaten, die Körperteile abtrennen, seien gar nicht so schlimm und sich überlegen, ob zur Erhöhung des Schreckens auch das Umgekehrte technisch machbar wäre. Also eine Granate, deren Splitter (oder was immer sich bei ihrer Detonation verbreitet) Körperteile nicht abtrennt, sondern verbindet. Ein Superbioleim, der die von der Explosion durcheinandergewirbelten Soldaten auf eine Weise zusammenklebt, die nur durch aufwändige Operationen wieder rückgängig zu machen wäre.

Ganze Batallione, die siamesisch zusammenwachsen zu seltsamen Kettengebilden aus Menschenkörpern. Was wie eine verrückte Turnübung aussähe, wie eine Dada-Tanz-Performance als Protest gegen den Wahnsinn des Kriegs, wäre der Wahnsinn des Krieges selber.