Acht Minuten

von Gerhard Meister 9. September 2015

Ich hätte am Kasten, in dem sich die Gratisblätter stapeln, vorbeigehen können, ohne hinein zu greifen und mir eines dieser Blätter zu nehmen.

Ich hätte mich ohne Gratisblatt in den Bus setzen können und das Gratisblatt, das dort schon auf dem Nebensitz lag, liegen lassen oder weglegen, damit es nicht vom Nichtstun ablenkt.

Ich hätte dann, hätte ich nicht das Gratisblatt Seite um Seite durchgeblättert und darin gelesen, während der Fahrt hinaus geschaut auf die Strasse, um dort die gleichen unauffälligen Passanten zu sehen wie jeden Morgen.

Gedacht hätte ich, hätte nicht das Gratisblatt meine Gedanken in Anspruch genommen, wenig, dass der Bus mein Gehirn schüttelt, hätte mir schon genügt.

Für ganze Minuten, es ist gut vorstellbar, hätte mich dieses Schütteln und Rütteln im Bus davon getragen an einen Ort, wo ich mich selber vergesse und ebenso alles um mich her.

Ganze Minuten wären nicht vergangen, nein, die Zeit wäre einfach über diese Minuten hinweg gesprungen, um hinter ihnen weiter zu machen, als hätte es sie nicht gegeben.

Ich wäre aus dem Bus ausgestiegen, ohne das Gratisblatt gelesen zu haben.

Statt die im Gratisblatt gesammelten Fetzen Welt auf mich einstürzen zu lassen, hätte ich mich in meine Welt zurückfallen lassen.

Ich hätte mich an den Computer gesetzt, herauskommend aus meiner Welt und zwischen mir und den Tasten des Computers wäre nicht das Wissen gestanden, dass in Deutschland ein Onkel seinen Neffen im Hotel getötet hat und die Juso wegen Schnäbi-Plakaten angezeigt wurden und eine alte Dame an einer Solidaritätsdemo für Flüchtlinge von der Polizei mit Pfefferspray besprüht wurde und ein junger Mann im Kanton Uri nachts um drei beim Gang von der Jagdhütte aufs WC eine steile Felswand hinunter zutode gestürzt ist und sich im Ohr eines neunjährigen Chinesen eine Kakerlake eingenistet und 24 Eier abgelegt hat, aus der 24 kleine Kakerlaken schlüpften, die ihm ein höllisches Kitzeln bereiteten und in Chile ein vernachlässigtes Kind nur deshalb überlebt hat, weil es von einer trächtigen Hündin gesäugt wurde und rund 30 Naturheilpraktiker und Homöopathen im niederländischen Handeloh mit dem Psychodelikum 2C-E, auch bekannt als Partydroge Aquarust experimentierten, worauf es ihnen so anders wurde, dass sie von mehr als 150 Sanitäter ins Spital gebracht werden mussten und ein Film mit dem Titel Kartoffelsalat von der internationalen Filmdatenbank Imdb.com als schlechtester Film aller Zeiten bewertet wurde.

Ich hätte am Kasten mit dem Gratisblattstapel vorbei gehen und meine acht Minuten im Bus anders verbringen können, als ich sie unwiderruflich verbracht habe und Sie, liebe Leserin, lieber Leser hätten einen anderen Text gelesen, als Sie nun ebenso unwiderruflich gelesen haben.