Kaliumiodid 65

von Gerhard Meister 10. Dezember 2014

Wenn Sie diesen Blog-Text lesen, werde ich meine Jodtabletten schon erhalten haben.

Jetzt, wo ich am Schreiben bin, kann ich mir vorstellen, was ich mit diesen Dingern anfangen werde, die ich, nachdem der Bundesrat den Risikoradius von zwanzig auf fünfzig Kilometer ausgeweitet hat, als Bewohner der Stadt Zürich zum ersten Mal zugeteilt bekomme.

Das heisst, ich könnte es mir vorstellen, habe aber keine Lust dazu.

Wenn Sie diesen Blog-Text lesen, werde ich meine Jodtabletten schon erhalten haben.

Gerhard Meister

Vielleicht liegt es daran, dass ich mir vor ein paar Jahren für ein Theaterstück und Hörspiel mit Hilfe von viel Recherchen und etwas Fantasie vorzustellen versuchte, was ein schwerer Unfall in einem Kernkraftwerk mit Bruch des Sicherheitsbehälters (so die Formulierung für den Supergau im offiziellen Informationsblatt zur Tablettenverteilaktion) für die Schweiz bedeuten würde.

Seither weiss ich, diese Jodtabletten sind ein Witz, aber leider keiner von der lustigen Sorte.

Es ist ja tatsächlich so, dass eine radioaktive Wolke über die Stadt Zürich ziehen könnte und für diesen Fall wäre es das Richtige,  Jodtabletten zu schlucken, um einem Schilddrüsenkrebs vorzubeugen.

Seither weiss ich, diese Jodtabletten sind ein Witz, aber leider keiner von der lustigen Sorte.

Gerhard Meister

Solange die Kraftwerke laufen, hat man also auch als AKW-Gegner allen Grund, diese Tabletten aufzubewahren.

Und genau das ist der Witz, der leider nicht lustig ist. Um es nun trotzdem in satirischem Ton, beziehungsweise Understatement zu formulieren: Neben dem Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken (dieser Krebs hat im Übrigen sehr gute Heilungschancen) verursacht ein atomarer Supergau noch ein paar weitere Probleme, so zum Beispiel den Untergang Schweiz.

Solange die Kraftwerke laufen, hat man also auch als AKW-Gegner allen Grund, diese Tabletten aufzubewahren.

Gerhard Meister

Hand aufs Herz: wer lebt freiwillig an einem Ort mit verseuchtem Wasser und Boden und damit einem deutlich erhöhten Krebsrisiko (neben Schilddrüsenkrebs gibt es noch einige weitere gegen die keine Tabletten verteilt werden, weil es gegen diese Krebsarten keine gibt). Ich weiss nicht, was den Exodus von Menschen und Geld und damit die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zerstörung der Schweiz aufhalten könnte.

Der Bundesrat verteilt gegen den Untergang der Schweiz Jodtabletten und ich frage mich, ob er an diese Tabletten glaubt.

Aber ich möchte mir eigentlich keinen Bundesrat vorstellen, der so naiv ist oder so gut im Verdrängen, dass er glaubt, mit diesen Tabletten wäre auch nur im Ansatz etwas ausgerichtet gegen die Auswirkungen eines Atomunfalls.

Andererseits habe ich auch keine Lust, mir einen Bundesrat vorzustellen, der mit der Verteilung dieser Tabletten das Volk betrügt, um gewisse Geschäftsinteressen zu schützen. Nun fällt mir leider ausser Naivität und Zynismus kein weiteres Motiv ein, das hinter dieser Tablettenverteilerei stehen könnte.

Der Bundesrat verteilt gegen den Untergang der Schweiz Jodtabletten und ich frage mich, ob er an diese Tabletten glaubt.

Gerhard Meister

Etwas Gutes haben diese Tabletten vielleicht trotzdem. Ich denke nämlich oder hoffe es wenigstens, dass der Glaube an sie nicht allzu weit verbreitet ist im Land.

Eigentlich wissen doch alle, dass der Betrieb von Atomkraftwerken nur dann zu verantworten ist, wenn jeder grössere Unfall mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Genau diese Sicherheit wurde von den Befürwortern dieser Art von Stromerzeugung konsequenterweise immer behauptet, ein schwerer Unfall mit Bruch des Sicherheitsbehälters, das wurde für die Schweiz ausgeschlossen – Fukushima hat diese Behauptung untergraben und gestürzt.

Jetzt werden die Jodtabletten fast über das ganze bewohnbare Land verteilt, einer Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer wird mit diesen Tabletten das Eingeständnis in die Hände gedrückt, dass es die behauptete Sicherheit nicht gibt.

Der grosse Unfall ist auch hier möglich, das ist die Botschaft dieser Tabletten. Ihre Verteilung lässt sich lesen als Beitrag zur politischen Meinungsbildung im Sinne der Vernunft.


Eine Version dieses Textes erschien auch in: Neue Wege 12/14