Der lernende Bundesrat

von Christoph Reichenau 1. Mai 2020

Es hat die Schweiz bisher sicher durch die Zeitläufte geführt, das Kollegium, dem eine Pianistin und Konsumentenschützerin, ein Winzer, der ehemalige Geschäftsführer einer Landi, die juristisch gebildete alt Stadtpräsidentin, ein Kantonsarzt, eine Dolmetscherin, ein Ökonom angehören, drei Frauen, vier Männer, eine Stimme mehr für die sogenannt bürgerliche Seite. Sie waren in der Politik zuvor GemeinderätInnen, Parteipräsidenten, Fraktionschef, standen Wahlen durch und vertraten Abstimmungsvorlagen vor der Bevölkerung. Sie kommen aus dem Kanton Bern, der Waadt, dem Tessin, der Zürcher Landschaft, dem ländlichen Freiburg, dem Oberwallis und St. Gallen. Bei Medienauftritten spürt man ihnen die Last der Verantwortung nicht an, wohl aber das Bedürfnis und die Bereitschaft, sich zu erklären – gerade auch dann, wenn das zu Erklärende zuvor nicht der eigenen Auffassung entsprach. Ich glaube ihnen, dass sie auch «kollegial mittragen», was ihnen gegen die politische Überzeugung geht. Mich überzeugt, aus wie entfernten Positionen sie eine Mitte gefunden haben, für deren stets vorläufige Richtigkeit sie das Parlament und auch uns Leute zu überzeugen versuchen.

Kein Verständnis habe ich für die seit Wochen andauernden Versuche der Medien, jedes Anzeichen von Differenzen innerhalb des Bundesrats gegen diesen als Kollegium und dessen Glaubwürdigkeit auszuschlachten. Welches Menschen- und Politikbild steckt hinter einer solchen Sicht? Sicher kein demokratisches, das von Pluralität ausgeht und dennoch auf Konsens ausgerichtet sein muss. Eher ein autoritatives, in dem nur richtig sein darf, was die eigene These stützt, der Skandalisierung und damit der Verkäuflichkeit dient. Mir scheint es normal, dass jede Bundesrätin und jeder Bundesrat mit einer eigenen Meinung in die Sitzung kommt, um dort in offener Diskussion eine gemeinsame Meinung zu erstreiten. Wofür bräuchten wir sieben, wenn alles immer schon klar wäre? Im Streben nach dem Gemeinsamen, in der Anstrengung dafür liegt die Kraft des Kollegiums. Es scheint mir nicht nur natürlich, sondern wohltuend, dass man sicher sein kann: Das kostet Kraft und diese Kraft schafft die bestmögliche Entscheidung, den bestmöglichen Lösungsansatz.

Als Betrachter mehrerer Medienkonferenzen am Fernsehen hatte ich noch nie den Eindruck, die Mitglieder des Bundesrats zelebrierten ihre vorübergehend gesteigerte Macht, sie seien arrogant und trügen den Kopf höher als in normalen Zeiten. Dass das Parlament erst jetzt wieder tagt, liegt in dessen Verantwortung. Die korrumpierende Wirkung der Macht, verbunden mit dem Wunsch, sie möglichst lange exklusiv ausüben zu können, merke ich nicht. Ich beobachte eher das Gegenteil: Die Last der Verantwortung; die Verletzung durch die oft ungerechten Angriffe; die Kränkung durch Unterstellungen aufgrund historischer Vergleiche (mit dem Bundesrat unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg), die nicht zutreffen.

Ein Bonmot sagt, wer die Macht habe, brauche nicht zu lernen. Der Bundesrat widerlegt dies gerade vor den Augen von uns allen. Er tastet sich vor in einer Unübersichtlichkeit, die der preussische Stratege Clausewitz den «Nebel des Krieges» genannt hat. Er entscheidet, ohne alles zu wissen, was nötig wäre. Er lernt von Sitzung zu Sitzung hinzu, passt Beschlüsse an – und erklärt uns, warum. Wenn die Lage nicht so ernst wäre, könnte man sagen, wir alle erlebten gerade ein fortlaufendes Weiterbildungsseminar. Ich hoffe, dass die Art des Bundesrates zu regieren, fortbesteht.

So fühle ich mich ernst genommen. «Wir sind viele Ratlose», schrieb Sibylle Berg vor kurzem im «Bund». Das trifft es. Die vielen Besserwisser lassen mich kalt, denn sie interessieren sich nicht für mich, sondern behaupten und fordern bloss. Der Bundesrat dagegen erklärt, wägt öffentlich ab und wagt auch zu sagen, er wisse Vieles noch nicht. Damit ist er seinen Kritikern weit voraus.