als ich in europa war

von Katja Brunner 31. Juli 2016

eine unvollständige Rückschau – eine Mutmassung – ein Kaleidoskop

Aber, das mit diesem Europa, das war doch – war das nicht, das mit diesem Europa, war das nicht die Geschichte vieler Stämme, die in Eintracht und Treue leben würden bis an ihr Lebensend? Und darüber hinaus?

Viele Stämme von ehemaligen Pfahlbauern über MazedonierInnen bis hin zu Hamstern? Aber wo kommen die Zuchtanfänge der mitteleuropäischen Hamster nochmal her – aus Syrien, oder nöd? Aber, das mit diesem Europa, das war doch diese Idee, dann irgendwann einmal, dass man sich zusammenschliesse, in Handel und Frieden so weit geeinigt? In Wirtschaft, die käme, den Frieden zu stiften? Aber hat dann die Wirtschaft den Stift verloren und nicht mehr so mitgeschrieben, dass es alle sehen könnten, die sich da angeschlossen hatten? Aber, das mit diesem Europa, was ist damit passiert? Es runzeln einige die Stirn und wundern sich, dass man der Idee noch nachweint.

Als ich in Europa war, war ich in der deutschen Einheit und ich war ein Stern auf einer Odessiter Mütze. Ich war in einem Prager Waisenhaus und habe Deutsch gesprochen. Als ich in Europa war, habe ich ein Murmeltier gehäutet und ich habe eine Führung durch den Vatikan gemacht, da habe ich einiges über die symbolische Trächtigkeit von Bienen und über alte nachlässige Herren gelernt. Ich habe Krypten angeschaut und mir sind Tränen und Tagträume die Beine runtergelaufen. Als ich in Europa war, stand ich an den Toren von Auschwitz und schwitzte nichts aus. Als ich in Europa war, stand ich am Tor von Auschwitz und wartete auf eine körperliche Reaktion. Die Blockhäuser waren von der Sonne hell beschienen und ich hatte die Ahnung einer Gänsehaut und Staccatoatem. Als ich in Europa war, stand ich an der Mosel und sah Denkmäler untergehen. Als ich in Europa war, sah ich kriegssystematische Vergewaltigungen an Frauen, ich sah, dass Affen Frauen zerfetzten, als ich in Europa war, sah ich müde Augen, die volle Einkaufstaschen trugen. Ich sah Kinder aus systematischen Kriegsverbrechen entstehen und aufwachsen. Als ich in Europa war, sah ich religiöse Bauten zusammenstürzen, ich sah kleine Kinder weinen, weil ihnen Eisbecher aus der Hand fielen. Ich sah in der Folge Hunde Eislachen auflecken. Ich sah grossartige Bauten einstürzen, weil sie’s müde waren. Sie waren es müde geworden tagein, tagaus als Menschenbeherbergungszentren zu funktionieren. Ich sah Landschaften ausbluten. Ich sah Landschaften einknicken, weil in ihnen das Erdöl implodierte. Ich sah Hamstermütter, die ihren Nachwuchs auffrassen, so der Nachwuchs an einem Herzfehler litt. Ich sah, dass einige Existenzen bedroht waren und andere nicht. Ich sah bedrohte und zeitweilig bedrohliche Existenzen, deren Urin in den Asphaltritzen versickerte. Ich sah Zeiten und Gewese. Als ich in Europa war, sah ich breite Nasen und spitze Gesichter, ich sah Ecken in Wangen, ich sah Schwielen in Händen, ich sah Nasen als Triefgeräte und ich sah Tiefseetauchende, die Suizid durch platzende Lungen begingen. Als ich in Europa war, sah ich Lüstlinge, die sich ukrainische Frauen bestellten und Zärtlichkeit gegen Aufenthaltsbewilligung austauschten, ich sah Schmetterlinge, die am Rheinfall in den Tod stürzten. Als ich in Europa war, sah ich Alte in Altersinstitutionen an Atmungsgeräten geistig verwesen, ich sah Alte, die von ihren Enkelkindern beklettert wurden wie von der Sonne erwärmte Berge. Ich sah Menschen, die auf Teppichen beteten. Ich sah andere, die gar nicht beteten. Ich sah wieder andere, die knieten aufrechten Oberkörpers, um ihrer Glaubensinstanz freundliche Worte zu zumurmeln. Ich sah die neuen Krater von Aleppo und Glücksblüten in den Gesichtern von FPÖ/ SVP / AfD-Wählern, ich antizipierte den baldigen Untergang des weissen Mannes, der aber blieb hartnäckig. Ich las minutiös recherchierte Artikel über das Leiden und Geradenochexistieren diverser moderner Sklaven und schlief deswegen in Schieflage. Ich sah Menschen, die wegen der Abwesenheit von Kapital kapitulierten und sich in der Folge trotzdem nicht vor Züge warfen, ich sah in Mitteleuropa aufgewachsene Menschen, die darüber berieten mit welcher Strategie man denn nun am erfolgreichsten Diätpopcorn unter junge Erwachsene bringe. Als ich in Europa war, sah ich Menschen, die Zutritt wollten zu eben jenem Europa und dafür in Tierlastern erstickten. Die dafür bezahlten, um auf ihrem Weg in eine Vermeintlichkeit zu erfrieren, zu ertrinken, zu ersticken. Als ich in Europa war, sah ich Kleinkinder an Stränden in atmungsaktiven Sonnenschutzanzügen genau so wie ich Säuglinge sah, von der damals falschen Seite angespült, keine Atmung mehr zu vermerken. Ich sah brennende Zentren, ich sah zerdrückten unteren Mittelstand. Ich sah die Traurigkeit der Klopfkäfer.

All das sah ich, während ich nichts tat. Nach Europa.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber und «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch