Texte, die wandern

von Johannes Wartenweiler 26. März 2014

Manche Sätze gehen eigenartige Wege und manchmal fragt man sich, ob diejenigen, die einen Satz verwenden, auch wissen, woher er stammt. Oder gelangte ein Spruch bewusst von der «Brass»-Fassade in die Wahlunterlagen der Grünliberalen?

«Denn wir gehen nicht unter in Niederlagen, aber in Kämpfen, die wir nicht kämpfen.»

Dieser Satz taucht um 1978 – zur Hochblüte des Deutschen Herbst – als Zwischentitel in einer Analyse der revolutionären Zellen auf. Es wird dort auf die internationale Dimension des Widerstandes gegen den «neuen Faschismus» hingewiesen. Dabei taucht auch der folgende Satz auf: «In den Schweizer Alpen wird Springers Fluchtburg eingeäschert.» Das bezieht sich auf den Anschlag auf das Ferienhaus von Axel Springer in Gstaad, verarbeitet in Daniel de Roulet «Ein Sonntag in den Bergen» (Zürich 2006). Die Textstelle stammt aus der zweibändigen Materialiensammlung «Die Früchte des Zorns», Berlin 1993, nachzulesen hier.

Der Satz steht wie ein erratischer Block im Text. Er wird nicht erklärt. Er gibt sich bedeutungsschwanger und tiefsinnig. Vermutlich liege ich mit der Übersetzung «Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren» nicht völlig schief.

«Denn wir gehen nicht unter in den Niederlagen, sondern in den Auseinandersetzungen, die wir nicht führen.»

Etwa 1994 taucht der Satz leicht abgewandelt – sozusagen zivilisiert – plötzlich an der Fassade der Brasserie Lorraine auf. Er steht für einen schwer fassbaren Frust im Umfeld der autonomen Szene. Er ist mindestens so persönlich wie politisch zu deuten. Er bleibt während Jahren unbehelligt. Er übersteht auch einen Fassadenanstrich und steht heute über der Eingangstüre der «Brass» auf der Seite Quartiergasse.

Wieder gehen zwanzig Jahre ins Land. Die Zeiten des Deutschen Herbsts und des vergangenen Jahrhunderts verschwinden allmählich im Dunst der Geschichte. Die BRD gibt es nicht mehr. Das politische Bezugssystem der revolutionären Zellen ist zusammengebrochen. Die Globalisierung schafft neue Voraussetzungen. Da taucht der Satz an einer völlig unerwarteten Stelle wieder auf: Im Wahlprospekt der Grün-Liberalen Regierungsratskandidatin, Koda-Leiterin und Teppichhändlerin Barbara Mühlheim.

Ich weiss nicht, ob die «Karriere» dieses Satzes erst 1978 angefangen hat und habe auch keine Ahnung, ob sie mit Mühlheim zu einem Ende kommt. Aber auch so hat er eine beeindruckende politische Strecke zurückgelegt: von links außen bis in die rechte Mitte.