Die Leiterin der Basisdemokratie

von Jessica Allemann 23. Dezember 2012

Wenn es «sanfte Rebellion» gäbe, dann führte sie in Jeans eine romantische Arie auf oder übernähme die Leitung einer basisdemokratisch organisierten Gruppe – so, wie es Adrienne Rychard, die Dirigentin des Frauenchors der Reitschule, macht.

Im hellen Treppenhaus des unverkennbaren Mehrfamilienhauses über dem Café Kairo, dem Wohnhaus von Adrienne Rychard, türmen sich Kindergummistiefel, Dreiräder und Trottinette. Während des Mittagsschlafs der Kinder erzählt sie am Tisch in der bunten, gemütlichen Küche von ihrer Lust, zwischen verschiedenen Musikstilen Brücken zu schlagen, vom inhaltlichen wie musikalischen Zugang des Frauenchors der Reitschule zu seinen Stücken und vom Suchen und Finden des eigenen Platzes – immer mit einem Funken unaufdringlicher Rebellion in den Augen.

Adrienne Rychard:

«Ich bin bereits als Kind auf der Bühne des Stadttheaters gestanden und habe im Kinderchor an Opernprojekten mitgewirkt. Damals habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, ob klassische Musik etwas für mich sei oder nicht. Als Jugendliche hatte ich es mir aufgrund dieser Erfahrungen dann auch zugetraut aufzutreten und zum Beispiel für Adventskonzerte Soli zu singen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass die anderen Jugendlichen wenig mit klassischer Musik am Hut hatten.

«Am Konservatorium habe ich viele graue Mäuse getroffen.»

Adrienne Rychard, Dirigentin Frauenchor der Reitschule

Ich fand es immer schon schade, dass das typische Bild des Klassikliebhabers jenes eines ergrauten Menschen ist, und wollte nie akzeptieren, dass auf der einen Seite die strenge klassische Musik und auf der anderen Seite der freie Pop und Jazz sein soll. Dieser wahrgenommene Gegensatz gab mir einen Ansporn für das Musikstudium. Ich wollte zwischen den Musikbereichen Brücken schlagen, populäre Elemente in die Klassik bringen und umgekehrt. Die Ernüchterung liess nicht auf sich warten. Am Konservatorium habe ich anstelle von neugierigen jungen Musikerinnen und Musikern viele graue Mäuse getroffen. Aber auch im Bereich der Populärmusik habe ich musikalisch festgefahrene Menschen kennen gelernt. Umso wichtiger wurde mir das Bedürfnis, mich in beiden Musikbereichen zu bewegen und bei den einen die Neugier für ‹das andere› zu wecken.»

«Nicht nur ‹Weiblein› und ‹Mägdlein› spielen»

«Ich habe viele Jahre Cello gespielt. Der Klang der Saiteninstrumente ist dem Klang der Stimme sehr ähnlich. Der Resonanzkörper des Cellos erzeugt einen schönen tiefen und warmen Klang. So wollte ich auch singen. Als mir zu Beginn des Gesangsstudiums gesagt wurde, ich sei ein Sopran, war ich erst enttäuscht. Auch hatte ich Mühe, mich mit dem besonders in der romantischen Literatur vorkommenden Frauenbild zu identifizieren. Als Sopranistin wollte ich trotzdem nicht nur ‹Weiblein› und ‹Mägdlein› spielen. Ich war richtig erleichtert, als ich das jugendlich-dramatische Stimmfach für mich entdeckte.

«Ich habe realisiert, dass ich mich nicht ändern muss, um meinen Platz in der klassischen Musik zu finden.»

Adrienne Rychard, Dirigentin Frauenchor der Reitschule

In den Werken für getragenere, schwerere Sopranstimmen fand ich Rollen, die eher meinem Typ entsprechen, und die ich nicht nur aufgesetzt spielen, sondern ehrlich verkörpern konnte. Da habe ich realisiert, dass ich mich nicht unbedingt ändern muss, um meinen Platz in der klassischen Musik zu finden. Ich habe aber auch gelernt, dass man sich abgrenzen und auf eine Rolle einlassen können muss. Wo ich früher noch für die eine oder andere Vortragsübung in Jeans auf die Bühne gestanden bin, habe ich heute kein Problem mehr damit, in das Kleid zu schlüpfen und zu spielen. Das Kleid gehört zur Rolle, und die Rolle in eine andere Zeit.

Während der Arbeit für das Konzertdiplom habe ich auch meine Liebe zur zeitgenössischen Klassik entdeckt. Diese Musik ist anspruchsvoll und gleichzeitig kann ich viel von mir selber reingeben. Ich sehe da mehr Möglichkeiten, sie nach meinem Geschmack zu interpretieren. Es gefällt mir ausserdem auch, etwa mit sonderbaren Klängen die Leute herauszufordern.»

«Es gibt immer Raum für Diskussionen»

«In den Anfängen des Chors war das Ziel regelmässiges gemeinsames Singen. Für mich war aber klar, dass ich eine leitende Funktion übernehmen wollte. Das entspricht zwar nicht einer gelebten Basisdemokratie, wurde aber bei den Sängerinnen gut aufgenommen. Viele Angelegenheiten wie zum Beispiel Entscheidungen zur Programmgestaltung oder zur Liedauswahl werden weiterhin im Kollektiv oder in bestimmten Arbeitsgruppen diskutiert. Inzwischen proben wir nicht mehr im Frauenraum der Reitschule. Unter dem Dach war es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiss. Es sind auch nur noch wenige der Sängerinnen in der Reitschule aktiv.

«Wenn wir zum Konzert in der Reitschule einladen, muss das Publikum damit rechnen, dass es zuerst über Scherben steigen muss.»

Adrienne Rychard, Dirigentin Frauenchor der Reitschule

Die Grundhaltungen sind dem Chor aber geblieben, und die Sängerinnen müssen bis zu einem gewissen Masse auch dahinter stehen können. Wir leiern aber nicht einfach irgendein Parteiprogramm herunter. Und doch: Wenn wir zum traditionellen Chorkonzert in der Reitschule einladen, muss das Publikum damit rechnen, dass es über Scherben steigen muss, um uns singen zu hören.

Wenn wegen einem bestehenden Liedtext feministische Einwände kommen, gibt es bei uns immer Raum für Diskussionen. Wir setzen uns nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich mit unseren Stücken auseinander. Es kann durchaus vorkommen, dass wir anstelle von ‹Männer und Brüder› eben ‹Frauen und Schwestern› singen. In der Kunst muss man sich letztlich aber auch auf andere Sichtweisen als die eigene einlassen können. Ich mag nicht immer alles basisdemokratisch angehen, so kommt man manchmal einfach nicht ans Ziel.»

«Frauen können das auch»

«Ein Frauenchor birgt Herausforderungen. Wir müssen zum Beispiel alle Stücke, die wir singen möchten, neu arrangieren und auf den weiblichen Stimmumfang anpassen. Dieser ist naturgemäss etwas kleiner als bei Männern. Das heisst, der Bass darf nicht zu tief sein, muss aber als solcher erkennbar bleiben. Für uns ist es auch wichtig, dass nicht die höchste Stimme den Lead hat. Es ist eine Riesenarbeit und finanziell aufwändig, alles neu zu arrangieren. Dafür führen wir die Stücke immer als Primeurs auf, wie sie bisher noch niemand interpretiert hat.»

Das Dirigieren liegt mir. Du musst wissen, was du willst, und den Mut haben, es zu sagen. Und du musst dich auch gegen Skeptikerinnen und Skeptiker behaupten. Aber es macht Spass, wenn du weisst, wie du das Tempo oder den Klang haben möchtest, und das dann auch so vom Chor bekommst, weil du es zeigst.

«Es gibt kaum weibliche Vorbilder, an denen ich mich als Frau orientieren könnte.»

Adrienne Rychard, Dirigentin Frauenchor der Reitschule

Die Funktion der Dirigentin ist eine ganz andere als jene der Sängerin. Als Sängerin ist man Instrument und schlüpft in eine vorgegebene Rolle. Als Dirigentin weise ich Instrumentalistinnen oder Sängerinnen Rollen zu.  Es gibt kaum weibliche Vorbilder, an denen ich mich als Frau orientieren könnte. Auf den Dirigentenpodesten stehen fast immer Männer. Man kann es in allen möglichen Kontexten beobachten: Es gibt die jungen Schnösel, die sich trauen eine Band zu gründen und aufzutreten, und die ihre Dinge übrigens auch gut machen, während sich die Mädchen und jungen Frauen eher zurückhalten. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit, Frauen können das auch! Ich bin jedenfalls froh, dass ich in die Dirigentinnenrolle gefunden habe – auch ohne ‹Modell›.»