Auf den Spuren eines eigenwilligen Vielschreibers

von Franziska Egli 25. September 2012

«Ich geniesse in Bern den Ruf der ordinären Schreiberseele». Über die «nomadische Mansardenexistenz» des Schriftstellers Robert Walser.

In seinen Berner Jahren wohnte er an einer Vielzahl unterschiedlicher Adressen: Robert Walser. Ein literarischer Spaziergang von und mit Werner Morlang fördert Erhellendes und Erheiterndes über den rätselhaften Schriftsteller und seine «nomadische Mansardenexistenz» zutage.

«Ich geniesse in Bern den Ruf der ordinären Schreiberseele», hielt er an der Luisenstrasse 14 fest. Das ist nur einer von unzähligen Sätzen Robert Walsers, des Verfassers von Werken wie «Geschwister Tanner« (1907) oder dem sogenannten «Räuber-Roman» (1925). Ein kauziger Schriftsteller, ein eigenwilliger Zeitgenosse, ein Stadtnomade, der von Schriftstellerkollegen wie Franz Kafka oder Kurt Tucholsky hoch geschätzt, zeit seines Lebens aber von einem breiteren Publikum verkannt war. Dabei gilt der 1878 in Biel Geborene und Verfasser von über tausend Texten heute als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Nur, wer war Robert Walser?

Bern als bedeutende Station in Walsers Leben

Einblick in sein Berner Leben gibt der literarische Spaziergang «Robert Walser in Bern», der das Robert-Walser-Zentrum mit Unterstützung der Berner Kantonalbank anbietet und der von Werner Morlang durchgeführt wird. Morlang, seit seiner Gymnasiumszeit ein grosser Anhänger von Walser und seinen Werken, war zuvor Leiter des Robert-Walser-Archivs und ist Mitherausgeber von Walsers mikrographischem Nachlass. «Bern war eine von mehreren Stationen in Walsers Leben, aber keine unbedeutende», erklärt Morlang zu Beginn des Spaziergangs. In seinen Berner Jahren von 1921 bis 1929 lebte der Schriftsteller an einer grossen Zahl unterschiedlichster Adressen, führte eine Art «nomadische Mansardenexistenz». Und so führt der Stadtspaziergang vom Rathaus an die Kramgasse, an die Gerechtigkeitsgasse, an die Junkerngasse, bis an die Thunstrasse und die Luisenstrasse im Kirchenfeldquartier und wieder zurück in die Altstadt.

Dichtend an der Junkerngasse, Albtraum-frei an der Gerechtigkeitsgasse

In amüsanter und kurzweiliger Manier erzählt Morlang bei jeder Station aus Walsers Berner Leben. Er liest Textpassagen vor und rezitiert Gedichte, berichtet aus seinem Alltag und plaudert aus dem Nähkästchen. Da ist auch mal von Schlummermüttern und ihren Töchtern die Rede und wie Walser – dem Alkohol und den Variétés nicht abgeneigt – mit Schimpf und Schande davongejagt wurde. Morlang erklärt aber auch Walsers Arbeitsweise und wie er Personen, denen er im Laufe seiner Berner Jahre begegnet ist, literarisch festhielt. Wie er wandernd die Gegend rund um Bern erkundet hat. Wie an der Junkerngasse Gedichte «jenseits von Gut und Böse» (Morlang) entstanden sind und warum Walser an der Gerechtigkeitsgasse selten gut und ohne Albträume schlafen konnte. Und überhaupt, dass Walser an Bern mitunter die Flaniermöglichkeit und das kulturelle Angebot sehr geschätzt hat und sogar in der Aare schwimmen war.

«Er war einer dieser Autoren, die es heute – wo mehrheitlich der Markt die Nachfrage diktiert – kaum mehr gibt.»

Walter Morlang

Trotz aller Eigenwilligkeit und einer bisweilen etwas mürrischen Fassade war Walser ein geselliger Mensch mit einem grossen Bekanntenkreis – und einer einzigen Konstante: dem Schreiben. Sein Nachlass umfasste nicht weniger als 526 Blätter mit Mikrogrammen – also Papieren verschiedenster Art, auf denen er seine Texte in winziger Bleistiftschrift entwarf, welche anfänglich gar für eine Geheimschrift gehalten wurde –, 224 unveröffentlichte Prosamanuskripte sowie rund 300 Prosa- und 122 Gedicht-Abdrucke aus der Berner Zeit. «Er war einer dieser Autoren, die es heute – wo mehrheitlich der Markt die Nachfrage diktiert – kaum mehr gibt», kommentiert Walter Morlang den immensen Output. Im Gegenzug zeuge Walsers Schreibtätigkeit auch von einer gewissen Robustheit und Gesundheit. «Das Schreiben hat ihn bestimmt stabilisiert», ist er überzeugt.

In der Pflegeanstalt beendete er seine Schreibtätigkeit

Der literarische Stadtspaziergang endet schliesslich im Kirchenfeld so abrupt wie Walsers Vielschreiberei: 1929 kam der Autor infolge einer psychischen Krise in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau. Da in Appenzell heimatberechtigt, wurde er alsdann in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau überführt, wo er über zwei Jahrzehnte als fast vergessener, anonymer Patient lebte und am Weihnachtstag 1956 auf einem einsamen Spaziergang im Schnee starb. Aus Herisau sind keine Texte überliefert, hier endet Walsers Schreibtätigkeit. Werner Morlang hat vollstes Verständnis dafür: «Robert Walser», findet er, während der Stadtspaziergang zurück in die Altstadt führt, «hat wahrlich genug geschrieben.»