Sorge tragen zu Gesellschaft und Demokratie

von Thomas Göttin 10. Dezember 2016

Jedes Jahr im Advent hält die abtretende Präsidentin oder der Präsident des Stadtrats, der Legislative Berns, Rückschau. Diesmal war es Thomas Göttin, Mitglied der SP. Hier seine Rede leicht gekürzt und überarbeitet.

Liebe Stadträtinnen und Stadträte, liebe Gemeinderätinnen und Gemeinderäte

Merci dass ihr mich ein Jahr lang den Stadtrat habt leiten lassen. Das ist eine faszinierende Aufgabe, ich habe sie mit Stolz und Leidenschaft ausgeübt. Man warnte und bedauerte mich, die Sitzungen in einem Wahljahr leiten zu müssen. Aber was ich gehört habe von hier oben sind viele spannende Debatten und gute Voten, fast durchweg mit Respekt und Anstand.

Pendenzen abgebaut

In diesem Jahr haben wir rund 25 Prozent mehr Geschäfte behandelt als in den Vorjahren, darunter rund 100 – oder ein Drittel mehr – Gemeinderatsgeschäfte. Dabei waren ein paar grosse Brocken wie das Viererfeld zu Jahresbeginn oder die Schwimmhalle heute Abend. Mit den 84 Geschäften vom 10. November 2016 stellten wir vermutlich einen Langzeit-Rekord an Traktanden pro Sitzung auf. Trotzdem reichte es an jenem Abend noch für einen Schlagabtausch über Velo, Parteienfinanzierung und städtische Infrastruktur.

In diesem Jahr wurde ein Viertel weniger Vorstösse eingereicht als zuvor. Das ist, so hoffe ich, eine Trendumkehr: die Zahl der hängigen Geschäfte ist stark gesunken. Wir sind beim Pendenzenberg, der Anfang Jahr 300 Geschäfte hoch gewesen war, im Abstieg. So holten wir fast ein Jahr Rückstand auf. Aber es braucht noch mindestens zwei solche Jahre, bis wir im Parlament wieder à jour für zwei absolut zentrale Aufgaben sind. Zentral wichtig ist es einerseits, zeitgerecht über Sachgeschäfte zu entscheiden. Und wichtig ist andererseits, unabhängig von konkreten Vorlagen aktuelle Debatten zu führen und Impulse zu setzen.

Anstand und Respekt

Es ist wichtig, dass wir uns mit Respekt begegnen und weder ausgrenzen noch als Opfer zelebrieren. Respekt setzt die Latte für den Anstand höher. Ich habe vielleicht wenig eingegriffen. Aber mehrere von euch haben in Voten klar gemacht, wenn im Rat Grenzen überschritten wurden. Dies beweist, dass der Rat als Ganzes Anstand einfordert. Auch bei der Länge der Voten habe ich das Fünfi mal gerade sein lassen, insbesondere bei «kurzen Erklärungen», die eine Minute überschritten. Denn im Ergebnis zählt doch, das alle ihre wesentlichen Inhalte darlegen können. Und das hat wahrscheinlich insgesamt zu kürzeren Debatten geführt.

Wichtig sind auch die kleinen Veränderungen, welche die Rolle des Parlaments stärken im Zusammenspiel mit Exekutive, Verwaltung und Medien. Die gemeinsame Traktandierung verschiedener Vorstösse zum gleichen Thema macht Sinn. Die Medien berichten heute über Motionen und Postulate – wenn überhaupt – nur beim Einreichen. Zu aktuellen Themen gibt es Vorstösse und Stellungnahmen von allen Seiten, welche schon fast den Charakter von Fraktionserklärungen aufweisen.

Keine Angst vor dem Stadtrat

Zulegen müssen wir bei der Kommissionsarbeit: Es gehören nur grundsätzliche Differenzen aus vorberatenden Gremien ins Plenum. Gerade weil Verwaltung und Exekutive professioneller geworden sind, braucht es mehr Informationsaustausch zwischen Gemeinderat und Kommissionen, besonders bei langfristigen und komplexen Geschäften wie etwa grossen Bauprojekten oder Planungsfragen.

Immer noch Misstrauen besteht im Verhältnis von Gemeinderat und Parlament. Wenn der Stadtrat seine Hausaufgaben gemacht hat, ist der Gemeinderat wieder am Zug. Mein Rat an den Gemeinderat: keine Angst vor dem Stadtrat. Beim Besuch der Lernenden aus der Stadtverwaltung im November fragte ich sie nach ihrem Eindruck, wie der Stadtrat nun Geschäfte behandle, die sie in der Verwaltung mit vorbereitet hatten. Die Antwort: sie hätten zum ersten Mal auch Gegenargumente gehört. Das ist wichtig: Der Stadtrat hilft mit, Geschäfte zu verbessern. Eine Vorlage, die das Parlament übersteht, wurde gründlich gebürstet, nicht nur zum Nachteil der Sache. Je komplexer ein Geschäft, desto wichtiger dieser Vorgang.

Medien und Lokalpolitik

Ich erlaube mir ein Wort zur Lokalpresse, obwohl ein Lokalredaktor kürzlich behauptete, Politiker sollten die Medien nicht kritisieren. Nun, geringe Beachtung der Lokalpolitik in den Medien gibt es auch in Bern. Die Berichterstattung über die schweizerische Innenpolitik, die ja auch in Bern – in Bundesbern – gemacht wird, mag ein bisschen darüber hinweg täuschen. Es hat eben Konsequenzen für Löhne, Arbeitsplätze und Inhalte, wenn ein ganz normaler gewinnoptimierender Mischkonzern mit Sitz in Zürich, der mehr als 10 Prozent Rendite auf dem Eigenkapital verdient und dem CEO 6 Millionen im Jahr zahlt, «Herausgeber» der Berner Zeitungen ist.

Zeitungen beobachten nicht nur die Entwicklung in der Gesellschaft, sie sind auch Teil dieser Entwicklung. Inhaltliche Vielfalt ist heute unter Druck zugunsten der Bewirtschaftung von Konflikten. Konflikte geben Anlass zu Empörung. Sie brauchen keine Argumente, sondern verteilen Schuld und stiften scheinbar Ordnung, wie Peter von Matt kürzlich bemerkt hat. Obwohl, oder vielleicht gerade weil sie unter Druck sind, könnten Zeitungen neben dem Misstrauen gegenüber allem, was online läuft, doch etwas mehr über die eigene Qualität und Rolle in der Lokalpolitik nachdenken.

Es braucht neue Ansätze im Lokaljournalismus

An einer Tagung von Journal B und dem Museum für Kommunikation wurde unlängst intensiv die Transformation im Journalismus diskutiert. Das Interesse war gross. Die Jungen suchen sich als digital natives die Zugänge online, sind aber genauso an relevanten Inhalten interessiert und als JournalistInnen ausgekochte Profis. Was es braucht, sind neue Finanzierungsmodelle – auch mit öffentlichen Geldern. Öffentliche Mittel auch der Stadt, wo ja die Gelder immer noch in den Stadtanzeiger fliessen, der die Traktandenliste des Stadtrates abdruckt…

Ich bedaure es, wenn ein Lokalredaktor die Traktandenliste einer Stadtratssitzung «nicht berauschend» findet, weil Baugeschäfte in Millionenhöhe behandelt werden, ohne dass man sich die Köpfe einschlägt. In der Politik sollten wir zurückhaltend sein beim Begriff «berauschend» – die Erfahrungen der Vergangenheit sind es nicht. Und die Erfahrungen in der Gegenwart sind es auch nicht.

Die Gegenwart stimmt besorgt

Diese Gegenwart beschäftigt mich, beschäftigt uns alle in diesem Jahr. Im Zusammenhang mit der Debatte über die Beteiligung der Stadt am Politforum Käfigturm wurde auf die Entwicklung in den USA und andern Ländern verwiesen. Die konservative englische Premierministerin redet viel über soziale Ungerechtigkeit und fehlende Bildungschancen – eigentlich ein linkes Programm. Aber eine rechte Regierung kann das nicht umsetzen, sie würde sonst auseinanderfallen, weil das ihren eigenen Interessen zuwider läuft. Donald Trump hat schon gar nicht diesen Anspruch, sondern verteilt weiterhin Schuld und organisiert Empörung. Steht man politisch links, bekommt man dafür noch die Schuld in die Schuhe geschoben. Es heisst, man hätte zu wenig gemacht oder zu viel gewollt – als Vorwurf von jenen, die alles verhindern. Oder es heisst man sei «abgehoben». Darüber kann ich – aus einer Familie stammend mit Berufen wie Grafiker, Nachtwächter, Dienstboten und oft ohne Ausbildung – nur den Kopf schütteln. Glaubwürdigkeit wird durch Verachtung untergraben – während dem sogar «Liberale» zum Egoismus von Populisten sagen, er sei authentisch. Oder betreten schweigen.

Ein positives Beispiel 2016 ist das Wahlresultat in Basel. Es ist auch ein Zeichen von liberalen Bürgerlichen gegen die autoritäre Rechte. Die Wahlen in Bern zeigen ebenfalls diesen Trend. Liberale Bürgerliche könnten – nein müssten – den Unterschied für eine sozialere Zukunft ausmachen. Sonst haben auch sie keine. Und wenn Linke und Liberale Kompromisse eingehen, dann immer zugunsten der sozialen Gerechtigkeit. Da darf es dann auch mal ein Parkplatz mehr sein. Sozialer Ausgleich ist der einzige Weg in der Demokratie. Dazu hat Mani Matter schon vor Jahren alles in der gebotenen Kürze gesagt; wir haben alle diese Zeilen im Ohr: «dene wos guet geit…». Sorry, meine Sicht auf die Zukunft ist düster, ich störe den Gottesdienst, wie Luzi Theiler sagen würde, heute ist es immerhin mein eigener.

Die Jungen und die Städte – Anlass zu Hoffnung

Eine Hoffnung liegt heute in der jungen Generation, die mir immer wieder Freude macht. Und Hoffnung bieten die Städte. Aber Städte brauchen Gestaltungsfreiheit. Sie sind Motoren der sozialen Innovation. Und sie bieten öffentlichen Raum als Ort des direkten, persönlichen Austausches. Ich habe Bern bei vielen Anlässen als eine offene und hellwache Stadt wahrgenommen. Und überall ist diese neue Generation am Kommen mit ihren Ansprüchen, aber auch mit Ideen und Engagement für eine gerechtere Gesellschaft.

Aussergewöhnlich war für mich das Treffen von Stadtrat und Burgerrat im Sommer im Generationenhaus. Die Burgergemeinde trägt viel zur Aufbruchsstimmung in Bern bei. Aussergewöhnlich war auch das in dieser Form erste Treffen der Parlamente von Köniz und Bern. Dass wir im Rathaus mit Sitzplan, mit gemischten Fraktionen und beiden Ratssekretariaten zusammen kamen, hat Erfahrungen möglich gemacht, die man anders nicht erwerben kann. Die Voten waren spannend und die gemeinsame Sitzung hatte einen entschieden tieferen Lärmpegel als die Stadtratssitzungen. Ich freue mich, dass beide Veranstaltungen im neuen Jahr eine Fortsetzung finden. Was mir für offizielle Veranstaltungen immer gefehlt hat, ist ein Pin mit dem Wappen der Stadt Bern, das man durchaus mit Selbstbewusstsein tragen darf. Also habe ich mit Unterstützung der Stadtkanzlei für heute Abend einen Pin organisiert für alle, die ihn tragen wollen.

Öffnen wir das Rathaus!

Eine allerletzte Anregung bleibt mir. Ich habe sie von einem Besuch bei meinem Amtskollegen im Berliner Abgeordnetenhaus, dem ehemaligen preussischen Landtag, mitgebracht. Öffnen wir das Berner Rathaus. Ich habe schon Gespräche geführt und hoffe, der Wunsch sei auf guten Wegen. Im nächsten Jahr wird das Rathaus 600 Jahre in Betrieb sein – die beste Gelegenheit, die europaweit einzigartige Eingangshalle wieder zugänglich zu machen für alle Bernerinnen und Berner und Besucherinnen und Besucher. Das kann mit einzelnen Veranstaltungen beginnen. Später könnte man in der Halle eine kleine Ausstellung oder Informationstafel über die Funktion des Rathauses als gesellschaftliches und später auch demokratisches Zentrum einrichten. Und so daran erinnern, dass wir Sorge tragen müssen zu unserer Gesellschaft und zu unserer Demokratie.